Wie steht es um die Inklusion in Deutschland? Gemeinsames Lernen Behinderter und Nicht-Behinderter als gesellschaftliche Aufgabe

Nachgefragt

Deutschland hat sich im Rahmen der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung verpflichtet, Kindern und Jugendlichen mit Behinderung eine weitgehende Teilhabe am Regelschulbetrieb zu ermöglichen. ZEW-Bildungsökonom Friedhelm Pfeiffer spricht über Chancen und Risiken dieses Ziels.

PD Dr. Friedhelm Pfeiffer ist Senior Researcher am ZEW und Privatdozent für Volkswirtschaftslehre an der Fakultät für Rechtswissenschaft und Volkswirtschaftslehre der Universität Mannheim. Seine Forschungsinteressen gelten den Ursachen und ökonomischen Konsequenzen von Bildungsinvestitionen für die individuelle und wirtschaftliche Entwicklung sowie der Evaluation arbeitsmarkt- und bildungspolitischer Maßnahmen. Als Mitglied des Mannheimer Bildungsbeirats berät Friedhelm Pfeiffer die Stadt Mannheim in verschiedenen Bildungsfragen. Zudem ist er Mitglied im Bildungsökonomischen Ausschuss des Vereins für Socialpolitik.

In den vergangenen Monaten wurde über Inklusion in Deutschland heftig diskutiert. Wo liegt das Problem?

Inklusion an Schulen will allen Kindern und Jugendlichen, auch solchen mit einer Behinderung, die Chance auf Teilhabe an möglichst hochwertigen Bildungsangeboten in der Gemeinschaft geben. In der Tat handelt es sich dabei um eine lohnende gesellschaftliche Aufgabe, geht es doch darum, die beiden Welten, Regelschule und Förderschule, die derzeit räumlich und institutionell vielfach getrennt sind, zusammenzuführen oder zumindest neu zu adjustieren.
Das Problem ist denn auch weniger die Zielgröße selbst. Teilhabe ist seit langem eine wesentliche Zieldimension der Bildungspolitik. In der Diskussion über die Inklusion wird aber deutlich, dass es unterschiedliche Vorstellungen darüber gibt, wie Teilhabe in einem stark ausdifferenzierten Bildungssystem wie dem deutschen praktisch umgesetzt werden soll und wie Behinderung definiert wird.

Welche Vorstellungen einer geeigneten Förderung von Kindern mit Behinderung konkurrieren miteinander?

Zum einen gibt es das bisherige, stark differenzierte Förderschulwesen mit einer individuell an die Lernbedarfe angepassten Förderung in Gemeinschaft von Schülern mit ähnlichen Behinderungen. Kritisch ist hieran, dass es notwendig ist zu definieren, was eine Behinderung ist und ab welchem Grad von Behinderung eine Förderschule angemessen ist. Solche Festlegungen sind nie ganz frei von Fehl- und Werturteilen. Zum anderen gibt es die Vorstellung einer Inklusion, also der Teilnahme Behinderter am Unterricht im Rahmen einer Klassengemeinschaft aller Jugendlichen, unabhängig von der individuellen Bedarfslage. In einer solchen Klassengemeinschaft kann es jedoch für Schüler mit spezifischen Behinderungen schwierig oder sogar unmöglich werden, dem herkömmlichen Unterricht zu folgen.

Wie weit ist Inklusion in den Schulen bisher gediehen?

Bei Inklusion hat Deutschland noch erheblichen Handlungsbedarf. Nach dem neuen Bildungsbericht lernen nur etwa 28 Prozent aller Schüler mit Behinderungen in Schulen, in denen auch Schüler ohne Behinderungen unterrichtet werden. Andererseits lernen 77 Prozent aller Schüler ohne Behinderungen ausschließlich in Schulen, in denen es keine Schüler mit Behinderungen gibt. Schüler mit Behinderung verteilen sich derzeit auf fast 3.300 Förderschulen (etwa jede zehnte Schule), wobei für jeden von insgesamt acht sonderpädagogischen Förderbedarfen eigenständige Schultypen entwickelt wurden. In diesen Förderschulen betreut ein Lehrer im Mittel 5,5 Schüler, oftmals ganztags. In allen allgemeinbildenden Schulen liegt das Betreuungsverhältnis dagegen bei 14,3 Schülern pro Lehrkraft.

Kann die Regelschule bei solch unterschiedlichem Betreuungsbedarf ein gemeinsames Lernen von Nicht-Behinderten und Behinderten denn leisten?

Das hängt in hohem Maße davon ab, wie Inklusion ausgestaltet wird. Entscheidend wird sein, Unterrichtsformen und begleitende Maßnahmen im Schulalltag zu finden, die eine Teilhabe von Menschen mit Behinderungen ermöglichen, ohne dass die bisherigen Schulleistungen darunter leiden. In diesem Zusammenhang ist natürlich auch die Frage von Bedeutung, ob bei einer Integration der Förder- in die Regelschulen zusätzliche Mittel (also zusätzlich zu den Ressourcen, die bisher für Regelund Förderschulen zusammen zur Verfügung stehen) benötigt werden, oder ob die bisherigen Finanzierung ausreicht.

UN-Behindertenrechtskonvention

Die Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung der Vereinten Nationen (UN) ist in Deutschland im Jahr 2009 in Kraft getreten. Die Konvention fordert unter anderem von allen Vertragsstaaten erhebliche Anstrengungen im Schulbereich, um  Kinder mit und ohne Behinderung in Zukunft gemeinsam unterrichten zu können.