Steht Deutschland vor der nächsten industriellen Revolution? "Die Umsetzung von Industrie 4.0 wird vorerst auf Einzelfälle beschränkt bleiben"

Nachgefragt

Wo industrielle Produktion mit Informations- und Kommunikationstechnologien verschmilzt, soll Industrie 4.0 entstehen. Dahinter verbirgt sich ein zukunftsträchtiges Hightech-Projekt, das der deutschen Bundesregierung ein Fördervolumen von gut 200 Millionen Euro wert ist. Zu Recht? ZEW-Forschungsbereichsleiterin Irene Bertschek spricht über die Chancen und Herausforderungen von Industrie 4.0.

Prof. Dr. Irene Bertschek leitet seit 2001 den Forschungsbereich "Informations- und Kommunikationstechnologien" am Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung. Zudem ist sie Professorin für Angewandte Empirische Wirtschaftsforschung an der Universität Mannheim. In ihren empirischen und überwiegend mikroökonometrischen Forschungsarbeiten befasst sie sich mit ökonomischen Fragen der Digitalisierung. Sie untersucht, wie sich die  Nutzung von Informations- und Kommunikationstechnologien auf die Innovationsaktivität und die Produktivität sowie die Arbeitsorganisation in Unternehmen auswirken.

Das Schlagwort Industrie 4.0 ist derzeit in aller Munde. Handelt es sich dabei tatsächlich um eine vierte industrielle Revolution?

Mit Industrie 4.0 wird die gesamte Wertschöpfungskette digital und intelligent. Dadurch dass jedes einzelne physische Teil, sei es eine Maschine oder ein Bauelement, Informationen sendet und empfängt, können die Dinge miteinander kommunizieren, man spricht deshalb auch vom Internet der Dinge – und der Dienste. Wie der Name schon sagt, spielt das Internet dabei eine entscheidende Rolle, denn es vernetzt die Dinge, die Prozesse und Produktionsabläufe, aber auch die Dienste miteinander. Das Ergebnis sind eine höhere Flexibilität und Individualisierung bei der Erstellung von Produkten und Diensten. Als revolutionär kann man das durchaus bezeichnen.

Welche Rolle kommt den Informations- und Kommunikationstechnologien dabei zu?

Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) spielen die Schlüsselrolle für Industrie 4.0. Dabei wird das volle Spektrum aufgefahren: vom Internet über Software, eingebettete Systeme, RFID-Tags, Cloud Dienste, Big Data  Analysetools und anderes mehr. Über Social Media werden auch noch die Kunden in den  Produktionsprozess mit einbezogen. Letztlich geht es um die Synthese der industriellen Produktion mit IKT.

Big Data – also Datenmengen, die die konventionellen Methoden der EDV überfordern – ist eine wesentliche  Grundlage von Industrie 4.0. Wo liegen hier die Probleme?

Zunächst mal gilt es, die entstehenden Datenvolumina stetig und möglichst in Echtzeit auszuwerten und aus den Ergebnissen die richtigen Schlüsse zu ziehen. Dabei stellt die Sicherheit eine entscheidende Voraussetzung für reibungslose und effiziente Abläufe dar. Materialnachschub sollte erst dann bestellt werden, wenn er wirklich gebraucht wird oder entsprechend zwischengelagert werden kann. Werden die Signale eines Bauelements falsch interpretiert, kann es zu teuren oder gar gefährlichen Fehlkonstruktionen kommen.

Bis wann ist mit einer großflächigen Umsetzung von Industrie 4.0 zu rechnen?

IKT-Trends sind sehr schnelllebig. Dennoch sehen wir in unseren Studien immer wieder, dass es seine Zeit braucht, bis sich neue technologische Entwicklungen großflächig durchsetzen. Gerade kleine und mittlere  Unternehmen (KMU) sind bei der Adoption neuer Anwendungen oft zögerlich, nicht zuletzt aufgrund mangelnden Vertrauens in die Datensicherheit. Die vollständige Umsetzung von Industrie 4.0 im Sinne einer vollautomatisierten und vollständig vernetzten Produktion wird deshalb vorerst wohl auf Einzelfälle beschränkt bleiben. Und es wird auch nicht für jedes Unternehmen sinnvoll sein, seine Prozesse komplett zu digitalisieren und zu vernetzen.

Was sind die gesellschaftlichen und ökonomischen Herausforderungen von Industrie 4.0?

Sollten sich Unternehmen für Industrie 4.0-Lösungen entscheiden, besteht die große Herausforderung darin, diese möglichst rasch umzusetzen, um damit Effizienz und Produktivität zu steigern. Aus Anbieterperspektive sollte das  vorhandene Know-how bei der industriellen Fertigung jetzt in Kombination mit IKT dazu genutzt werden, sich auf dem internationalen Markt Wettbewerbsvorteile zu verschaffen. Die größte Herausforderung sehe ich allerdings bei den möglichen Auswirkungen von Industrie 4.0 auf die Arbeitnehmer. Automatisierung und Vernetzung können bedeuten, dass Maschinen Aufgaben übernehmen, die bislang von Menschen durchgeführt wurden. Was aber nicht gleich bedeuten muss, dass in großem Stil Arbeitsplätze abgebaut werden. Vielmehr werden sich die Tätigkeitsstrukturen der Beschäftigten verändern. Wo bislang produzierende oder verarbeitende Tätigkeiten gefordert waren, werden in Zukunft mehr analytische, steuernde oder kreative Tätigkeiten gefragt sein. Die Herausforderung wird es sein, diese Veränderungsprozesse mit entsprechenden Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen zu begleiten.