Nachgefragt: Mindestlohn - Fluch oder Segen für den deutschen Arbeitsmarkt? "Der Mindestlohn ist kein Ersatz für notwendige Bildungsmaßnahmen"
NachgefragtSchon vor seiner Einführung zum Jahresanfang 2015 war der branchenübergreifende Mindestlohn in Deutschland ein Politikum. Seither spitzt sich die Kontroverse zu: Während die gesetzliche Lohnuntergrenze ab Januar 2017 steigen soll, erreicht die Debatte im Zuge der Flüchtlingskrise eine neue Dimension. Über allem steht dabei die Frage: Welche Folgen hat der Mindestlohn langfristig für die deutsche Wirtschaft? ZEW-Arbeitsmarktökonom Terry Gregory beobachtet, dass ein zu hoher Mindestlohn langfristig schädlich für die Wirtschaft sein kann und plädiert dafür, nachhaltiges Lohnwachstum eher über eine bedarfsorientierte Bildungspolitik zu erzielen.
Kritiker machen sich von allen Seiten bemerkbar, Befürworter eher rar. Wird der Mindestlohn als faire Lohnuntergrenze am Arbeitsmarkt akzeptiert?
Studien zeigen, dass die Akzeptanz in der Bevölkerung grundsätzlich relativ hoch ist. Auch die Betriebe akzeptieren weitestgehend den Mindestlohn, werden doch unter anderem Billigkonkurrenten vom Markt verdrängt. Ob die Akzeptanz auch langfristig anhält, wird davon abhängen, ob der Mindestlohn auch die Einkommenssituation insgesamt für Geringverdiener verbessert und keine unerwarteten Anpassungsreaktionen seitens der Betriebe hervorruft, etwa Stellenabbau, verlängerte Arbeitszeiten, Streichung nichtmonetärer Leistungen und Ähnliches. Zudem muss der Bürokratieaufwand so gering wie möglich gehalten werden und der Mindestlohn an der Produktivität ausgerichtet sein.
Die Mindestlohnkommission plant eine Anhebung von derzeit 8,50 Euro auf 8,80 Euro zum neuen Jahr. Den Gewerkschaften schweben sogar neun Euro vor. Welche Effekte bringt die Erhöhung mit sich?
Unsere Erfahrungen mit den Branchen-Mindestlöhnen in Deutschland zeigen, dass kurzfristig nicht mit Arbeitsplatzverlusten zu rechnen ist. Wird der Mindestlohn allerdings zu hoch angesetzt, kann das im Einzelnen zu Lasten von Arbeitsplätzen und -bedingungen gehen, insbesondere im konjunkturellen Abschwung. Beispielhaft zeigt das eine ZEW-Studie zu den langfristigen Wirkungen von Mindestlöhnen im Dachdeckerhandwerk, wo der Mindestlohn seit 1997 auf heute 12,05 Euro angestiegen ist. Zwar haben sich die Reallöhne der Niedrigverdiener verbessert. Gleichzeitig haben aber die Kostenanstiege bei ostdeutschen Kleinstbetrieben zu Entlassungen und Lohnzurückhaltung bei Facharbeitern sowie zur Verdrängung von Kleinstbetrieben geführt. Angesichts technologischer Entwicklungen ist außerdem zu befürchten, dass mindestlohnbedingt steigende Lohnkosten weitere Investitionen in arbeitseinsparende Technologien oder die Verlagerung von Arbeit an kostengünstigere Unternehmen im Ausland befördern könnte. Wir untersuchen das am ZEW zurzeit in einer Langfrist-Studie.
Minderjährige ohne Berufsabschluss, Auszubildende und Langzeitarbeitslose in den ersten sechs Monaten im neuen Job sind zum Beispiel vom Mindestlohn ausgenommen. Häufig wird das als diskriminierend empfunden.
Hintergrund der Regelung ist, dass sich die Einstellung dieser Arbeitnehmergruppen bei Zahlung des Mindestlohns für die Betriebe nicht mehr rechnen würde, da die Lohnkosten die Produktivität übersteigen würden. Die geringe Produktivität hängt vor allem mit einer fehlenden oder „veralteten“ Berufserfahrung und Qualifikation zusammen. Das Grundproblem ist: Ein steigender Mindestlohn erhöht die Kluft zwischen Lohnkosten und Produktivität weiter. Die Ausweitung von Ausnahmeregelungen ist hier keine Lösung, da ansonsten ein Mindestlohn entsteht, der für viele Geringverdiener nicht mehr gilt. Der Fokus sollte daher auf einer bedarfsorientierten Bildungspolitik liegen, um dem steigenden Qualifikationsbedarf durch eine fortschreitende Automatisierung, etwa bei IT-Kenntnissen, entgegenzukommen. Der Mindestlohn ist kein Ersatz für notwendige Bildungsmaßnahmen.
Bleiben wir bei der Diskriminierung: Im Zusammenhang mit der aktuellen Migration nach Deutschland steht im Raum, ob der Mindestlohn auch für Flüchtlinge gelten soll.
Der Mindestlohn wurde eingeführt, um den Niedriglohnsektor einzudämmen, der sich immer mehr ausweitet. Eine Ausnahmeregelung für Flüchtlinge würde diesem Ziel allerdings entgegenwirken. Außerdem könnten Betriebe die "günstigeren" Flüchtlinge im Verhältnis zu deutschen Arbeitnehmern bevorzugen. Die Priorität bei der Integration von Flüchtlingen in den Arbeitsmarkt sollte ohnehin zuerst in der Erteilung von Arbeitserlaubnissen, der Anerkennung von Qualifikationen sowie in der Vermittlung deutscher Sprachkenntnisse liegen.