Wirtschaftspolitik aus erster Hand – "Die Neugründung Europas muss gelingen"

Veranstaltungsreihen

Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Hans-Werner Sinn bei seinem Vortrag am ZEW zur Neugründung Europas nach dem Brexit.

Brexit, Trump, Flüchtlingszustrom, Eurokrise – angesichts akuter Probleme in Europa stellt sich die Frage nach dem künftigen Weg und Fortbestehen der Europäischen Union. Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Hans-Werner Sinn, ehemaliger Präsident des ifo-Instituts und einer der meinungsstärksten Ökonomen Deutschlands, hat am 1. Februar 2017 sein 15-Punkte-Programm für die Neugründung Europas nach dem Brexit vorgestellt – und dabei deutlich gemacht, welche Reformen die EU und Deutschland dringend nötig haben. Rund 350 Gäste und Führungskräfte aus Politik, Wissenschaft und Wirtschaft verfolgten mit großem Interesse den Vortrag in der Veranstaltungsreihe Wirtschaftspolitik aus erster Hand am Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) in Mannheim.

"Der 21. und 23. Juni 2016 sind von wegweisender Bedeutung für die Zukunft Europas und Deutschlands. Wir müssen jetzt reagieren", eröffnete Sinn seinen Vortrag. Der Brexit habe verheerende Folgen für die EU: "Der Austritt des Vereinigten Königreichs ist in wirtschaftlicher Hinsicht gleichbedeutend mit dem Austritt der zwanzig kleinsten Mitgliedsstaaten." Außerdem würden freihandelsorientierte EU-Länder durch den Brexit die Sperrminorität von 35 Prozent im EU-Ministerrat verlieren. Diese Sperrminorität würde auf 26 Prozent herabsinken, das Gleichgewicht der Kräfte in Europa dadurch empfindlich gestört. "Allein aus diesem Grund muss Deutschland Neuverhandlungen der EU-Verträge anstreben", erläuterte Sinn. Gleichzeitig gefährde eine unberechenbare wirtschaftspolitische Linie der USA unter der Präsidentschaft von Donald Trump die Exportnation Deutschland mit drastischen Beschränkungen für den Freihandel. "Unsere Regierung muss die Bedeutsamkeit der USA als wichtigsten Exportmarkt und Großbritanniens als drittwichtigsten Exportmarkt verstehen", so Sinn. Hierbei sei die künftige Haltung gegenüber dem Vereinigten Königreich besonders wichtig. "Wir müssen Großbritannien als assoziiertem Mitglied der EU schon aus deutschem Selbstschutz eine attraktive Position einräumen".

Die EZB im Ausnahmezustand

Im Fokus seiner Betrachtung stand außerdem die Eurokrise. "Wir wachsen mit negativen Zinsen und einem unterbewerteten Euro. Das ist kein echtes, sondern ein künstliches Wachstum, das über Binnensektoren erzeugt und mit Staatsschulden finanziert wird", wetterte der Ökonom. Echtes Wachstum entstehe durch einen internationalen Wettbewerb der Industrie. Als Grund für diese Probleme nannte Sinn die neoklassische Krise des realen Wechselkurses. "Wenn man die Eurozone retten möchte, muss Deutschland teurer werden", so die Schlussfolgerung. Die Europäischen Zentralbank (EZB) befände sich im Ausnahmezustand: "Momentan kann die EZB Staatspapiere der Krisenländer unbegrenzt kaufen." Mit der kostenlosen Kreditausfallversicherung der "Whatever it takes"-Politik von EZB-Präsident Mario Draghi gingen Risiken für Steuerzahler einher, die wiederum für Ausfälle haften müssten.

In diesem Zusammenhang prangerte Sinn das "Quantitive Easing" (QE)-Programm der EZB an. "QE erleichtert den Staaten die Verschuldung mit der Druckerpresse", so Sinn. 2,3 Billionen Euro an Wertpapierkäufen sollen somit bis Ende 2017 getätigt werden – Sinn zufolge ein Fass ohne Boden. "Die Bundesbank muss einen Löwenanteil des QE kreditieren, weil sich die Liquidität in Deutschland sammelt", erläuterte der Ökonom. Letzten Endes würde die Bundesrepublik dadurch erpressbar und müsste einer europäischen Fiskalunion gezwungenermaßen zustimmen.

"Wir brauchen eine Kurskorrektur in Europa"

"Auf dieser Basis kann man kein gemeinsames Europa bauen", meinte Sinn. Er plädierte für einen Verzicht auf die praktisch existente Gemeinschaftshaftung, wodurch Europa die nötige Stabilität wiedergegeben würde. "Wir brauchen eine Kurskorrektur. Der Weg, den wir eingeschlagen haben, bedeutet vermehrt Konflikte in Europa." Sein Programm sehe deswegen eine "atmende Währungsunion" vor: "Ein temporärer Austritt aus dem Euro würde sich auf die Wettbewerbsfähigkeit angeschlagener Mitgliedsstaaten positiv auswirken." Zudem forderte Sinn eine Konkursordnung für Staaten mit automatischer Laufzeitverlängerung bei Liquiditätsengpässen.

Schließlich sprach er sich für die Unterscheidung zwischen dem Heimatlandprinzip für ererbte Sozialansprüche und dem Gastlandprinzip für erarbeitete Sozialansprüche aus. "Bisher leben wir in einem unauflösbaren Trilemma zwischen dem Ziel der Freizügigkeit innerhalb der EU, der Sozialstaatlichkeit und dem Ziel sozialer Inklusion. Das kann nicht funktionieren", führte Sinn aus. In weiteren Punkten plädierte er für die Möglichkeit, Asyl-Anträge außerhalb der EU beantragen und bearbeiten zu können sowie die Stabilisierung der EU-Anrainerstaaten im Süden und Osten. Als letzten Aspekt nannte Sinn eine mögliche Zusammenlegung der europäischen Armeen inklusive der osteuropäischen Streitkräfte. "Wir müssen uns auf den Grundgedanken der EU zurückbesinnen und eine Sicherheitspartnerschaft anstreben, um bewaffnete Konflikte zu verhindern", schloss Sinn.