Der Mittelstandsbauch wird nach der Bundestagswahl sicher flacher

Nachgefragt

Der deutsche Staat schwimmt sprichwörtlich im Geld. Wie das Bundesfinanzministerium vorrechnet, sollen für die Jahre 2018 bis 2021 Steuermehreinnahmen in Höhe von 46 Milliarden Euro zusammenkommen – eigentlich eine Vorlage für die Politik, nach der diesjährigen Bundestagswahl umfassende Steuerreformen auf den Weg zu bringen. Was kann und muss dabei vor allem berücksichtigt werden? Und inwiefern ist eine Reduzierung der Steuerlast realistisch? ZEW-Familienökonom Holger Stichnoth spricht über die künftigen steuerpolitischen Optionen in Deutschland.

Das Versprechen von Steuerentlastungen ist ein beliebtes Wahlkampfinstrument. Ist es möglich, den sogenannten Mittelstandsbauch zu glätten, ohne kleinere und mittlere Einkommen weiter überproportional zu belasten und gleichzeitig Steuermindereinnahmen zu verkraften?

Der progressive Einkommensteuertarif belastet höhere Einkommen stärker als kleine und mittlere Einkommen, von einer überproportionalen Belastung kann man daher nicht sprechen. Allerdings wächst der Grenzsteuersatz im Bereich kleiner und mittlerer Einkommen besonders schnell, in diesem Sinne liegt also eine Belastung vor. Ich rechne fest damit, dass dieser sogenannte Mittelstandsbauch nach der Wahl ein Stück weit geglättet wird. Das geht aber in der Tat nicht ohne Steuermindereinnahmen. Wie stark die Glättung ausfällt, wird daher davon abhängen, ob die Politik bereit ist, auf Einnahmen zu verzichten oder aber an anderer Stelle für eine Gegenfinanzierung zu sorgen.

Was bringt es, den Spitzensteuersatz auf zu versteuernde Einkommen von derzeit 42 Prozent auf 49 Prozent anzuheben?

Eine stärkere Besteuerung höherer Einkommen ist auf jeden Fall eine Möglichkeit, die Glättung des Mittelstandsbauchs teilweise gegenzufinanzieren. Ein höherer Spitzensteuersatz hätte sicher auch eine Signalwirkung in einer Situation, in der sich viele Menschen um das Auseinanderdriften von Arm und Reich sorgen. Die Umverteilungswirkung wäre allerdings, zumindest im Verbund mit einer Glättung des Mittelstandsbauchs, nicht allzu hoch, denn anders als der Name suggeriert, profitiert nicht nur die Mittelschicht von einer Glättung, sondern auch die Gruppe der hohen und höchsten Einkommen. Dadurch wird die Wirkung des höheren Spitzensteuersatzes zum Teil abgefedert.

Sollte das geltende Ehegattensplitting zugunsten einer individuellen
Besteuerung der Partner aufgehoben werden?

Durch das Splitting haben beide Partner de facto den gleichen Grenzsteuersatz, das heißt ein zusätzlicher Euro des Partners mit dem niedrigeren Einkommen wird genauso hoch besteuert wie ein zusätzlicher Euro des besser verdienenden Partners. Das trägt mit dazu bei, dass in Deutschland viele Frauen in Teilzeit und in Minijobs arbeiten. Eine Abschaffung oder zumindest Einschränkung des Splittings wäre daher aus meiner Sicht wünschenswert. Allerdings würden viele Paare, die sich auf Basis des derzeit geltenden Rechts für eine bestimmte Aufteilung der Erwerbsarbeit entschieden haben, dabei zunächst verlieren. Die Regelungen zum Splitting sollten daher am besten nur allmählich und nicht von einem Tag auf den anderen geändert werden.

Wie lässt sich die „kalte Progression“ effizient ausgleichen?

Man könnte den Einkommensteuertarif „auf Räder stellen“, die Formel also automatisch an die Inflation oder die Entwicklung der Einkommen anpassen. Ich persönlich neige aber eher dazu, dem Gesetzgeber den Zeitpunkt der Anpassung selbst zu überlassen. In der Vergangenheit hat das alles in allem ganz
gut funktioniert. Die „kalte Progression“ wirkt zudem als eine Art automatischer Stabilisator im Konjunkturzyklus: Wenn im Aufschwung die Einkommen stark steigen, steigen die Einkommensteuereinnahmen überproportional, und umgekehrt dämpft der Rückgang des Steueraufkommens den Abschwung der Einkommen.

Wäre es sinnvoll, den Solidaritätszuschlag beizubehalten, um unerwartete Mehrkosten zu decken, wie etwa Beiträge zu Rettungspaketen für insolvente Mitglieder der Eurozone?

Eine Art deutscher Eurozonen-Soli wäre sicher kaum mehrheitsfähig. Aber natürlich lässt sich mit der Notwendigkeit staatlicher Ausgaben etwa für Schulen oder die Infrastruktur grundsätzlich
immer gegen Steuersenkungen argumentieren, sei es beim Soli oder direkt in der Einkommensteuer. Das berührt letztlich die zentrale wirtschaftspolitische Frage danach, welche Aufgaben die Bürgerinnen und Bürger dem Staat übertragen wollen und welcher Teil dieser Aufgaben per Steuern finanziert werden soll. Ob man dann einen eigenen Soli erheben oder diesen in die Einkommensteuer integrieren möchte, ist dagegen zweitrangig.