Gemeinschaftsdiagnose Herbst 2012: Eurokrise dämpft Konjunktur – Stabilitätsrisiken bleiben hoch
ForschungDie deutsche Wirtschaft wird durch die Eurokrise belastet. Daher wird die konjunkturelle Expansion vorerst schwach bleiben und erst im Verlauf des kommenden Jahres wieder leicht anziehen. Die Institute prognostizieren eine Zunahme des Bruttoinlandsprodukts um 0,8% für das Jahr 2012 und um 1,0% für das Jahr 2013. Die Lage am Arbeitsmarkt wird sich dabei vorerst noch verschlechtern, die Zahl der Arbeitslosen wird 2013 geringfügig auf 2,9 Millionen steigen. Das Budget des Staates wird sowohl in diesem als auch im kommenden Jahr annähernd ausgeglichen sein. Kritisch sehen die Institute das Programm der EZB, Staatsanleihen von Krisenländern zu kaufen. Damit steigt die Inflationsgefahr.
Im Herbst 2012 befindet sich die Weltwirtschaft in einer Schwächephase. Die Konjunktur hat nahezu überall an Fahrt verloren, und die Stimmung von Unternehmen und Haushalten hat sich weiter verschlechtert. Ein wichtiger Belastungsfaktor ist schon seit dem vergangenen Jahr die Schulden- und Vertrauenskrise im Euroraum. Hinzu kommt, dass Anpassungsprozesse, die seit dem Platzen der Immobilienblase in den USA im Jahr 2007 auch in anderen fortgeschrittenen Volkswirtschaften stattfinden, noch nicht abgeschlossen sind. Die Folgen struktureller Fehlentwicklungen vor der Krise dämpfen nach wie vor die Konjunktur, und je länger eine durchgreifende Erholung auf sich warten lässt, desto mehr wird Unternehmen und privaten Haushalten, aber auch den Regierungen bewusst, dass die langfristigen Wachstums- und Einkommensaussichten schlechter sind als bisher gedacht.
Die Notenbanken in den großen fortgeschrittenen Volkswirtschaften reagierten im Spätsommer auf die neuerliche Zunahme von Pessimismus auf den Finanzmärkten und die Eintrübung der konjunkturellen Aussichten, indem sie neue Wertpapierkäufe ankündigten, die im Fall der EZB und der Fed diesmal im Umfang nicht begrenzt wurden. Auf den Finanzmärkten hat sich die Stimmung in der Folge erst einmal verbessert. Dass es der Geldpolitik dadurch gelingt, die Konjunktur zu beleben, ist allerdings fraglich. Ob etwa die EZB die Finanzierungsbedingungen für öffentliche und private Schuldner in den Krisenländern nachhaltig verbessern kann, wird wohl wesentlich davon abhängen, ob die Wirtschaftspolitik es schafft, dass Finanzinvestoren, Unternehmen und Haushalte Vertrauen in die Reform- und Konsolidierungsanstrengungen im Euroraum fassen. In diesem Fall wird die Finanzpolitik zwar – wie fast überall sonst in den fortgeschrittenen Volkswirtschaften auch – stark dämpfend wirken. Doch besteht dann die Aussicht, dass die Unsicherheit, die die wirtschaftliche Aktivität in den Krisenländern derzeit lähmt, zurückgeht.
Unter dieser Voraussetzung dürfte sich die Konjunktur im Euroraum allmählich stabilisieren. Nach einem Rückgang um 0,5% in diesem Jahr wird das Bruttoinlandsprodukt im kommenden Jahr aber kaum mehr als stagnieren. In den USA wird die Nachfrage im kommenden Jahr durch eine stark restriktive Finanzpolitik gedämpft. Die gesamtwirtschaftliche Produktion in den fortgeschrittenen Volkswirtschaften insgesamt dürfte so in beiden Jahren mit einer Rate von 1,2% nur sehr schwach zunehmen. In den Schwellenländern wird sich die wirtschaftliche Expansion im nächsten Jahr voraussichtlich leicht beschleunigen. Insbesondere für China ist davon auszugehen, dass die Regierung den zuletzt eingeschlagenen Kurs fortsetzt und den Expansionsgrad ihrer Politik so lange ausweitet, bis die Konjunktur deutlich anzieht. Alles in allem wird die Weltwirtschaft bis Ende 2013 verhältnismäßig langsam expandieren; die Weltproduktion dürfte in diesem Jahr um 2,3% und im nächsten Jahr um 2,5% zulegen. Der Welthandel belebt sich dabei nur wenig. Nach einem Zuwachs von lediglich 2,1% in diesem Jahr wird er auch im nächsten Jahr mit einer Rate von 3,8% in einem im längerfristigen Vergleich mäßigen Tempo steigen.
Die Eurokrise belastet auch die Konjunktur in Deutschland. Im zurückliegenden Frühjahr lösten neue Probleme in Krisenländern Turbulenzen an den Finanzmärkten aus, und die Unsicherheit über die Zukunft des Euroraums nahm wieder zu. Neben der sich eintrübenden Weltkonjunktur drückte dies die Zuversicht der Unternehmen in Deutschland; so haben sich die Geschäftserwartungen seit April 2012 von Monat zu Monat verschlechtert und befanden sich zuletzt auf dem niedrigsten Stand seit der Rezession 2008/2009. Die ungünstigen Aussichten schlugen sich insbesondere in den Unternehmensinvestitionen nieder.
Hingegen konnten sich die deutschen Ausfuhren angesichts des sich verschlechternden weltwirtschaftlichen Umfelds bisher recht gut behaupten. Offenbar profitierten die deutschen Exporteure davon, dass sich aufgrund der Abwertung des Euro ihre preisliche Wettbewerbsfähigkeit bis zuletzt deutlich verbessert hat. Jüngst war sie so günstig wie noch nie seit der Gründung der Europäischen Währungsunion.
Derzeit weist vieles darauf hin, dass sich die gesamtwirtschaftliche Expansion gegen Jahresende abschwächt. So waren die Auftragseingänge im Verarbeitenden Gewerbe bis zuletzt in der Tendenz rückläufig, und die ungünstigen Erwartungen der Unternehmen sprechen für weiterhin sinkende Ausrüstungs- und gewerbliche Bauinvestitionen. Dagegen sind Investitionen in Wohneigentum nach wie vor attraktiv. Alles in allem erwarten die Institute für 2012 eine Zunahme des realen Bruttoinlandsprodukts um 0,8%.
Im Verlauf des kommenden Jahres dürfte sich die deutsche Konjunktur beleben, da sich die Lage im Euroraum allmählich entspannen und die übrige Weltwirtschaft stärker Fahrt aufnehmen dürfte. In einem so verbesserten Umfeld dürften die günstigen Finanzierungsbedingungen stärker zum Tragen kommen. In der zweiten Hälfte des kommenden Jahres wird der Zuwachs des Bruttoinlandsprodukts voraussichtlich wieder über der Wachstumsrate des Produktionspotenzials liegen, welche die Institute auf etwas mehr als 1% veranschlagen. Für den Jahresdurchschnitt erwarten die Institute gleichwohl nur einen Zuwachs des Bruttoinlandsprodukts um 1,0%.
Bei der erwarteten gesamtwirtschaftlichen Entwicklung dürfte sich die Lage am Arbeitsmarkt zunächst kaum noch verbessern. Der Anstieg der Erwerbstätigkeit hat sich bereits im Verlauf dieses Jahres spürbar verlangsamt. Die Arbeitslosigkeit nimmt seit dem Frühjahr sogar in der Tendenz leicht zu, nicht zuletzt weil sich, auch aufgrund einer verstärkten Zuwanderung, das Erwerbspersonenpotenzial rascher erhöht. Im Prognosezeitraum wird die Arbeitsnachfrage wohl kaum zunehmen, worauf unter anderem die seit Jahresbeginn rückläufige Zahl offener Stellen hindeutet. Die Arbeitslosenquote wird in beiden Jahren des Prognosezeitraums 6,8% betragen.
Trotz der sich abschwächenden Konjunktur hat sich der Anstieg der Verbraucherpreise im Verlauf des Jahres 2012 nur wenig verlangsamt. Aufgrund anziehender Rohölpreise hat sich die Inflation zuletzt sogar wieder etwas beschleunigt. Für den Prognosezeitraum erwarten die Institute, dass der binnenwirtschaftliche Preisauftrieb stärker wird, Insbesondere erhöhen sich die Lohnstückkosten beschleunigt. Alles in allem ist mit einer Inflationsrate von 2,0% in diesem und 2,1% im kommenden Jahr zu rechnen.
Für die öffentlichen Finanzen ist bedeutsam, dass die Struktur der gesamtwirtschaftlichen Expansion derzeit recht abgabenergiebig ist, da die Bruttolöhne und -gehälter und die nominalen privaten Konsumausgaben deutlich zulegen. Dadurch sind die Einnahmen des Staates bis zuletzt kräftig gestiegen. Zudem ist die Finanzpolitik in diesem Jahr restriktiv ausgerichtet. Vor diesem Hintergrund erwarten die Institute für 2012 einen ausgeglichenen Staatshaushalt. Im kommenden Jahr dürfte sich die Haushaltssituation nicht weiter verbessern, zumal der Konsolidierungskurs voraussichtlich unterbrochen wird.
Die vorliegende Einschätzung der deutschen Konjunktur basiert auf der Annahme, dass sich die Lage im Euroraum im Verlauf des Prognosezeitraums allmählich stabilisiert und dadurch die Zuversicht insbesondere der Investoren zurückkehrt. Dies ist indes keineswegs gesichert. Sollte sich die Lage im Euroraum weiter verschlechtern, würde auch die deutsche Wirtschaft getroffen. Über den gesamten Prognosezeitraum gesehen überwiegen die Abwärtsrisiken, und die Gefahr ist groß, dass auch Deutschland in eine Rezession gerät.
Die Wirtschaftspolitik wird weiterhin durch die Eurokrise bestimmt. Anfang September beschloss der EZB-Rat, am Sekundärmarkt unter bestimmten Bedingungen Staatsanleihen zu kaufen, und zwar grundsätzlich in unbegrenzter Höhe. Eine langfristige wirtschaftspolitische Lösung der Krise zeichnet sich dennoch nicht ab, vielmehr bleiben die Stabilitätsrisiken hoch.
Damit die Staatsschuldenkrise überwunden wird, ist es notwendig, die Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen in den Krisenländern zu gewährleisten. Ist sie gefährdet, so hat ein Staat im Prinzip vier Möglichkeiten. Die erste besteht darin, dass er seinen Haushalt konsolidiert und durch strukturelle Reformen ein höheres Wachstum ermöglicht. Gelingt dies nicht, bleiben drei Optionen: Die Staatsschuld kann mittels Transfers von anderen getragen werden, sie kann durch eine Insolvenz oder Restrukturierung verringert oder sie kann durch Inflation entwertet werden. Vor dieser Wahl stehen letztlich auch die wirtschaftspolitischen Instanzen in Europa.
Die Strategie der wachstumsfördernden Reformen verbunden mit glaubwürdiger Konsolidierung der öffentlichen Haushalte bleibt nach Ansicht der Institute der Königsweg, um das Vertrauen in die Nachhaltigkeit der Staatsfinanzen in den Krisenländern wieder herzustellen. In den vergangenen Monaten nahmen allerdings Zweifel zu, ob diese Strategie allein zum gewünschten Ergebnis führt. Gleichzeitig machte die innenpolitische Diskussion in Ländern wie Finnland und Deutschland klar, dass die Bereitschaft schwindet, Hilfskredite zu erhöhen oder Transfers zu leisten. Damit wird eine Transferlösung weniger wahrscheinlich.
Die Option einer staatlichen Insolvenz wurde von politischer Seite kategorisch ausgeschlossen. Damit bleibt keine geordnete finanzpolitische Alternative für den Fall, dass die Wachstums- und Konsolidierungsstrategie scheitert. Dabei wäre es ein geeigneter Lösungsweg, die Gläubiger an den Krisenkosten zu beteiligen. Dies sollte im Rahmen eines Insolvenzmechanismus für Staaten geschehen, den die Institute in früheren Gutachten wiederholt gefordert haben.
In Ermangelung einer anderen politisch akzeptierten Lösung ist die EZB nun ein weiteres Mal eingesprungen, um die Risikoaufschläge für Staatsanleihen der Krisenländer zu begrenzen. Mit der Entscheidung der EZB könnte nun auch der Grundpfeiler der Währungsunion ins Wanken geraten, nämlich das Ziel der Preisstabilität. So ist die EZB auch aufgrund der Konditionierung nicht mehr unabhängig von der Finanzpolitik, mit der Folge, dass die Verantwortlichkeiten zwischen den jeweiligen Politikbereichen verwischt werden. Die Unabhängigkeit einer Notenbank ist jedoch eine wichtige Voraussetzung für eine langfristig stabilitätsorientierte Geldpolitik.
Auch vor diesem Hintergrund beurteilen die Institute das OMT-Programm kritisch. Sie sehen das Risiko, dass die Inflation mittelfristig steigt. Dieser Prozess kann dadurch ausgelöst werden, dass die EZB letztlich monetäre Staatsfinanzierung betreibt. In der Folge könnten die Bürger und die Akteure an den Märkten das Vertrauen in die EZB verlieren, nachhaltig für Preisstabilität zu sorgen. Früher oder später würden sich dann die Inflationserwartungen aus ihrer Verankerung lösen. Ferner ist die Gefahr groß, dass die EZB bei Abweichungen von den Anpassungsprogrammen dennoch weiterhin Anleihen kauft und übermäßig geldpolitisch stimuliert, was dann preistreibend wirken und zu einem Anstieg der Inflationserwartungen führen könnte. Da die Wiedergewinnung der geldpolitischen Reputation in einem solchen Fall langwierig sein kann und mit restriktiven Impulsen einhergeht, wäre mit hohen sozialen Kosten bei der Gewährleistung von Preisstabilität zu rechnen.
Unabhängig vom aktuellen Kurs der Notenbank hat eine anhaltend expansive Geldpolitik mittelfristig möglicherweise erhebliche Konsequenzen für die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland. Zwar liegt gegenwärtig keine Überhitzung vor, in der mittleren Frist ist eine Überauslastung der Kapazitäten jedoch zu erwarten. Daher besteht ein Risiko, dass es zu Übersteigerungen zum Beispiel im Immobiliensektor kommt. Allerdings erscheinen schuldenfinanzierte Übertreibungen in einem Ausmaß, wie sie in einigen Krisenländern des Euroraums zu beobachten waren, derzeit in Deutschland wenig wahrscheinlich. Außerdem ist die Kreditvergabe durch Banken in Deutschland traditionell an vergleichsweise hohe Anforderungen geknüpft. Dies bedeutet allerdings nicht, dass es mittelfristig nicht zu Übertreibungen insbesondere im Immobiliensektor kommen kann. Die Wirtschaftspolitik sollte dies sorgfältig verfolgen und kann sich dabei an einer Reihe von Indikatoren orientieren, die im Gutachten analysiert werden. Da wirtschaftliche Übertreibungen zwar nach ähnlichen Mustern ablaufen, sich aber nie absolut gleichen,sollte dazu ein breites Spektrum von Indikatoren verwendet werden.
Der Projektgruppe Gemeinschaftsdiagnose gehören an:
ifo Institut – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung an der Universität München e.V.
in Kooperation mit:
KOF Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich
Institut für Weltwirtschaft an der Universität Kiel
bei der Mittelfristprojektion in Kooperation mit:
Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) in Mannheim
Institut für Wirtschaftsforschung Halle
in Kooperation mit:
Kiel Economics
Rheinisch-Westfälisches Institut für Wirtschaftsforschung
in Kooperation mit:
Institut für Höhere Studien Wien
Für Rückfragen zum Inhalt
Dr. Marcus Kappler, Telefon 0621/1235-157, E-Mail kappler@zew.de