„Wir sind auf verlorenem Posten, wenn wir national denken“

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Das Jahresgutachten 2022/23 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung

Prof. Dr. Dr. h.c. Monika Schnitzer, Vorsitzende des Sachverständigenrats, bei der Diskussion mit ZEW-Präsident Prof. Achim Wambach, PhD nach ihrer Präsentation des Jahresgutachtens 2022/23.

Unternehmen kämpfen mit erhöhten Produktionskosten. Haushalte sehen sich mit steigenden Konsumgüterpreisen konfrontiert. Und damit sind die für Wirtschaft und Gesellschaft drängenden Probleme noch lange nicht erschöpft. In seinem diesjährigen Jahresgutachten identifiziert der Sachverständigenrat die drängendsten wirtschaftspolitischen Herausforderungen, benennt Ziele und Maßnahmen zu deren Bewältigung. Einen fundierten Einblick in das Gutachten gab Prof. Dr. Dr. h. c. Monika Schnitzer, Vorsitzende der Wirtschaftsweisen, im Austausch mit ZEW-Präsident Prof. Achim Wambach am 8. Dezember 2022 im Rahmen der ZEW-Veranstaltungsreihe „Wirtschaftspolitik aus erster Hand“ in Mannheim.

„Das Bild sieht düster aus“, konstatierte Ökonomin Schnitzer zu Beginn ihres Vortrages. Der konjunkturelle Ausblick für Deutschland und Europa habe sich im Vergleich zum Frühjahr 2022 merklich eingetrübt. Als eine Ursache nannte sie die pandemiebedingt anhaltenden Störungen der globalen Lieferketten. Entscheidend sei jedoch die Energiekrise, die im Zuge des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine manifest wurde, gewesen. Deshalb stehe laut Schnitzer auch das Gutachten ganz unter dem Eindruck dieser Krise.

Ihre Bewältigung sei neben der Inflationsbekämpfung eine der zentralen Herausforderungen nicht nur der Wirtschaftspolitik, sondern auch der sozialen Gerechtigkeit. Denn ärmere Haushalte, so Schnitzer, wenden ohnehin schon einen sehr viel größeren Einkommensanteil für die Bestreitung ihres Lebensunterhaltes auf. Angesichts gestiegener Energiepreise müssen diese nun „quasi alles ausgegeben“, Sparen sei kaum oder gar nicht mehr möglich. Deshalb solle die Regierung hier zielgenau entlasten, wo die Belastung durch die hohe Inflation am größten sei. Das Problem: Ein so präzises Instrument gebe es momentan nicht. Abhilfe könne jedoch ein Gesamtpaket schaffen, das  eine temporäre Erhöhung des Spitzensteuersatzes oder einen Energiesolidaritätszuschlag beinhalten würde.

Über Strukturwandel in der Industrie und Fachkräftesicherung

Auch in der Industrie bestehe Handlungsbedarf. So gehe es einerseits darum, die Abhängigkeit Deutschlands und der EU von russischen Energieimporten zu überwinden. Zum anderen solle die geplante Transformation hin zur Klimaneutralität weiter gefördert werden. Der zügigere Ausbau erneuerbarer Energieträger und die Diversifikation der Energiequellen waren nur zwei der in diesem Kontext genannten Maßnahmen.

Dass langfristiges Denken notwendig sei, zeige auch das Thema der Fachkräftesicherung. Die Erwerbsmigration habe in den vorangegangenen Jahren entscheidend zur Deckung der deutschen Arbeitskräftenachfrage beigetragen. Doch „das wird in Zukunft nicht mehr aus EU-Staaten zu bewältigen sein“, folgerte Ökonomin Schnitzer angesichts der europaweit beobachtbaren Gesellschaftsüberalterung. Besonders wichtig sei es darum, bei der zentralen Zuzugshürde für Arbeitssuchende anzusetzen: dem Gleichwertigkeitsnachweis ausländischer Berufsabschlüsse. Die sogenannte Westbalkanregelung könne hier als Vorbild dienen. Denn sie eröffne bestimmten Individuen mit Arbeitsplatzzusage die Einreise ohne vorherige Prüfung des Qualifikationsniveaus.

„So autonom wie nötig, so offen wie möglich“

Zu guter Letzt warf Schnitzer die Frage auf, wie die Reduzierung wirtschaftlicher Abhängigkeiten – ein weiterer Eckpfeiler des Gutachtens – gelingen könnte. „Es geht darum, strategische Allianzen zu bilden“, so die Wirtschaftsweise. Insbesondere bei der Beschaffung kritischer Rohstoffe, die bislang zum größten Teil aus China erfolge, müsse sich Deutschland breiter aufstellen.

Ein solches globalwirtschaftliches Bewusstsein betonte Schnitzer auch in der anschließenden Diskussion mit ZEW-Präsident Prof. Achim Wambach. So etwa beim Thema Deindustrialisierung. Denn für deutsche Unternehmen stelle sich nicht nur das Problem der eigenen Energiekosten, sondern auch die Frage nach den Produktionskosten der außereuropäischen Konkurrenten. Wer seine Preise wettbewerbsbedingt nicht weiter anheben könne, würde seine Produktion wahrscheinlich verlagern müssen. Entscheidend sei deshalb, die Herstellung auf solche Produkte zu konzentrieren, mit denen tatsächlich noch eine Gewinnmarge zu erzielen sei.

Positivere Töne schlug man in der abschließenden Preisverleihung an. Der ZEW-Förderkreis ehrte Dr. Terry Gregory und Prof. Dr. Ulrich Zierahn mit dem diesjährigen Preis für die beste wissenschaftliche Leistung. Theresa Bührle, Leonie Fischer und Prof. Dr. Christoph Spengel wurden mit dem Preis für das beste wirtschaftspolitische Beratungsprojekt bedacht.

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08.12.2022 Mehr zur Veranstaltung