30 Jahre EU-Binnenmarkt – (k)ein Grund zur Freude!?

Veranstaltungsreihen

Wirtschaftspolitik aus erster Hand am ZEW zur Zukunft der europäischen Wettbewerbsfähigkeit

Prof. Dr. Martin Kocher, österreichischer Bundesminister für Arbeit und Wirtschaft, redet über die Eigenheiten des österreichischen Arbeitsmarkts.

Am 1. Januar 1993 startete der europäische Binnenmarkt und damit eine der größten Errungenschaften der Europäischen Union: ein Meilenstein, der Anlass genug zur Freude bietet, aber auch, um einen kritischen Blick in die Zukunft zu werfen. Dies geschah am 15. Mai 2023 im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Wirtschaftspolitik aus erster Hand“ am ZEW in Mannheim. Prof. Dr. Martin Kocher, österreichischer Bundesminister für Arbeit und Wirtschaft, sprach über den wirtschaftlichen Status Quo der EU und insbesondere Österreichs sowie über Chancen und Risiken. In Europa stecke ein großes Potenzial, wenn es sich auf seine Stärken konzentriere. Gegen Abhängigkeiten hingegen helfe keine Deglobalisierung, sondern mehr Diversifizierung.

Zur Begrüßung sagte ZEW-Präsident Achim Wambach, PhD, Martin Kocher sei ein Superminister, da er Arbeits- und Wirtschaftsminister zugleich ist, und habe eine beachtliche wissenschaftliche Vita vorzuweisen, die sehr gut zum ZEW passe. Diese Expertise brachte Kocher in seinen Vortrag ein, in dem er die wirtschaftliche Entwicklung skizzierte: „Österreich als Land mit relativ hoher Kaufkraft hatte 2020 einen stärkeren Einbruch als der europäische Durchschnitt. 2022 war ein Jahr, das durch starkes Aufholen mit knapp 5 Prozent Wirtschaftswachstum geprägt war.“ Den Prognosen nach tue sich 2023 weniger mit 0,4 bis 0,5 Prozent; damit liege das Wachstum im EU-Durchschnitt.

Arbeitskräfte als knappes Gut

Wenngleich es mit den regional sehr unterschiedlichen Arbeitslosenquoten ein paar Eigenheiten auf dem österreichischen Arbeitsmarkt gäbe, bleibt die Gesamtquote mit 4,5 Prozent im März 2023 recht niedrig, sagte Kocher und ergänzte: „Die Tatsache, dass trotz drei schwacher Quartale die Arbeitslosigkeit niedrig bleibt, ist ein Indikator für die Knappheit von Arbeitskräften.“ Bekämpfen wolle er sie mit einem Mix aus Zuwanderung sowie steuerlichen Anreizen, damit mehr Menschen aus Teil- in Vollzeit wechseln bzw. auch Rentner/innen, die möchten, länger arbeiten können. Beim Thema Zuwanderung verwies er auf die Reform des Einwanderungsrechts, das Punkte nach bestimmten Kriterien wie Sprache, Ausbildung, Mangelberufen verteilt und dazu geführt habe, dass seit 1. Oktober 2022 50 Prozent mehr Arbeitsbewilligungen erteilt wurden. Im Vergleich sieht er trotz gewisser Probleme auch die Stärke Europas: „Wir sind besser aufgestellt als die USA und Asien beim Thema Fachkräftemangel.“

Stärken stärken

Den aktuellen Trend, sich unabhängiger zu machen, sieht er kritisch: „Die Gefahr besteht aus meiner Sicht in der Deglobalisierung, auch wenn sie nicht so genannt wird, da man meist technologische Unabhängigkeit sagt.“ Außerhalb der kritischen Infrastruktur solle die Globalisierung erhalten bleiben; man müsse in gegenseitigen Abhängigkeiten denken: „Deutschland hatte 80 Prozent Marktanteil bei Photovoltaikanlagen, jetzt kommen fast alle aus China. Um den produzierten Strom ins Stromnetz einzuspeisen, braucht man aber auch  Wechselrichter, die fast alle aus Österreich kommen. Es gibt also auch umgekehrte Abhängigkeiten.“ Statt mithilfe eines European Chips Act eine Chip-Industrie in Europa aufzubauen, „wo wir keine Kompetenz haben“, sollten die Bereiche – wie etwa der deutsche Auto- oder Maschinenbau – gestärkt werden, in denen Europa Technologieführerschaft besitzt. Denn: „Politisch ist es wichtig, Abhängigkeiten klar zu benennen, schließlich kostet Unabhängigkeit viel Wohlstand.“

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