„Deutschland nicht der kranke, aber alternde Mann Europas“

Veranstaltungsreihen

Das Jahresgutachten 2023/24 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung

Wirtschaftsweise Prof. Dr. Dr. h.c. Monika Schnitzer erklärt in ihrer Präsentation, warum eine Steigerung der Arbeitsproduktivität in Deutschland in der Zukunft notwendig ist.

Das Wachstum der deutschen Wirtschaft ist gehemmt – durch die demographische Alterung, das geringe Produktivitätswachstum, den veralteten Kapitalstock sowie die geringe Anzahl junger und innovativer Unternehmen. In seinem Jahresgutachten identifiziert der Sachverständigenrat die drängendsten wirtschaftspolitischen Herausforderungen und benennt Maßnahmen zu deren Bewältigung. Einen fundierten Einblick in die Empfehlungen gab Prof. Dr. Dr. h.c. Monika Schnitzer, Vorsitzende der Wirtschaftsweisen, im Austausch mit ZEW-Präsident Prof. Achim Wambach am 4. Dezember 2023 im Rahmen der ZEW-Veranstaltungsreihe „Wirtschaftspolitik aus erster Hand“ in Mannheim.

„Deutschland ist nicht der kranke Mann Europas, allerdings ist er der alternde Mann Europas“, eröffnete Monika Schnitzer den Vortrag. Die konjunkturelle Erholung der Bundesrepublik verzögere sich, da die Industrie noch nicht den nötigen Modernisierungsschub erfahren habe. Die vergangene Zeit sei geprägt gewesen von hohen Energiepreisen, durch die hohe Inflation gesunkenen Realeinkommen und dadurch niedrigere Nachfrage der Verbraucher/innen. Die Kerninflation bleibe auch mittelfristig hoch bei 3,1 Prozent. Gerade auf den Dienstleistungsbereich kämen jetzt höhere Lohnkosten zu, die die Preise noch einmal treiben würden.

Längerfristig drohe Deutschland eine Wachstumsschwäche. Abhilfe könne aber eine stärkere Digitalisierung schaffen – besonders in der Verwaltung könne der Fachkräftemangel dadurch angegangen werden. Gerade bei kleinen und mittleren Unternehmen gebe es noch große Möglichkeiten, viele mittelständische Betriebe nutzten das Potenzial der Digitalisierung nicht ausreichend.

Rentenreform geboten

Der kommende Ruhestand der Babyboomer-Generation bedeute nicht nur ein Rückgang des Arbeitsvolumens. Auch für die Rente stelle der demographische Wandel eine große Herausforderung dar: Weniger Einzahlende müssten mehr Rentenempfangende finanzieren. Nach aktuellen gesetzlichen Vorgaben besage der Nachhaltigkeitsfaktor in der Rente, dass die Beitragszahlen erhöht und die Rentensätze geschmälert werden.

Die Wirtschaftsweisen sehen daher eine Rentenreform als geboten an und schlagen zwei Maßnahmen vor: Einerseits sollte die Lebensarbeitszeit an die Lebenserwartung gekoppelt werden. Allerdings würde diese Maßnahme allein nicht ausreichen. Da zu wenige Kinder geboren würden, sollten andererseits auch alle für sich selbst durch eine kapitalgedeckte Altersvorsorge vorsorgen. „Hätten wir vor 20 Jahren die Reform zu kapitalgedeckten Rente gemacht, stünden wir heute wesentlich besser da“, ordnet Schnitzer ein. Die Auswirkungen der Maßnahmen würden sich jedoch erst langfristig einstellen. Kurzfristig sollte daher der Rentenanstieg begrenzt oder die Rentenentwicklung, statt wie bisher an die Lohnentwicklung, an die Inflation gekoppelt werden. Deutschland sei eines von nur sehr wenigen Ländern, in denen Gehaltsentwicklung als Maßstab für die Rentenentwicklung genommen werde.

Forschungsdaten-Infrastruktur modernisieren

Zum Abschluss des Vortrags kritisierte Monika Schnitzer den Zustand der Forschungsdateninfrastruktur in Deutschland. Sie sei „rückständig“, so die Wirtschaftsweise. Um evidenzbasierte Beratung leisten zu können, brauche es Daten. Der Gesetzgeber solle output- statt inputorientierte Regelungen erlassen, da aktuell jede Datenerhebung ein eigenes Gesetz brauche. Andere europäische Länder, die unter derselben Datenschutz-Grundverordnung agieren, schafften das, während in Deutschland der Datenschutz als Hindernis angeführt würde. Bei der Abwägung zwischen Datenschutz und Nutzung von Daten müsse ein größeres Gewicht auf die Nutzung von Forschungsergebnissen gelegt werden.

Die anschließende Diskussion mit ZEW-Präsident Prof. Achim Wambach, PhD sowie die Fragerunde aus dem Publikum gingen auf aktuelle Themen wie die Minderheitsvoten im Gutachten, die aktuelle Debatte um das Bürgergeld oder das Verfassungsgerichtsurteil zum Nachtragshaushalt der Ampelkoalition ein. Im Schatten des Verfassungsgerichts-Urteil forderte Schnitzer, dass sich nun alle demokratischen Parteien zusammenrauften. Es sei eine Stunde, in der alle über ihren Schatten springen müssten. Sie säßen im selben Boot, da auch etliche unionsgeführte Bundesländer durch das Urteil Probleme mit ihren Haushalten bekommen hätten.

Preise für ZEW-Wissenschaftlerinnen

Vorstandsvorsitzender des ZEW-Förderkreis Dr. Ralph Rheinboldt mit den beiden Preisträgerinnen Prof. Kathrine von Graevenitz, PhD, stellvertretende Leiterin des ZEW-Forschungsbereichs „Umwelt- und Klimaökonomik“, und ZEW-Ökonomin Elisa Rottner.

Noch vor dem Vortrag von Monika Schnitzer ehrte der Vorsitzende des ZEW-Förderkreises, Dr. Ralph Rheinboldt, drei ZEW-Wissenschaftlerinnen und einen Wissenschaftler der Universität Basel für herausragende Arbeiten. Der Förderkreis feiert 2023 sein 30-jähriges Bestehen. Weitere Informationen dazu bietet die Förderkreis-Sonderseite.

Die ZEW-Ökonomin Dr. Michaela Slotwinski erhielt gemeinsam mit Prof. Dr. Alois Stutzer, Universität Basel, den Preis für die beste wissenschaftliche Leistung. Geehrt werden sie für ihre Studie „Women Leaving the Playpen: The Emancipating Role of Female Suffrage“, die im renommierten „The Economic Journal“ veröffentlicht wurde. Die Studie legt dar, dass politische Teilhabe und Selbstbestimmung von Frauen stark zusammenhängen.

Den Preis für das beste wirtschaftspolitische Beratungsprojekt erhielten die ZEW-Wissenschaftlerinnen Prof. Kathrine von Graevenitz, PhD und Elisa Rottner für das vom  Bundesministerium für Bildung und Forschung finanzierte Projekt „TRACE“. Es untersucht die Auswirkungen klimapolitischer Regulierungen im Hinblick auf Wettbewerbsfähigkeit und Energieverbrauch der deutschen Industrie.

Weitere Informationen

Das Jahresgutachten 2023/24 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung

04.12.2023 Mehr zur Veranstaltung