EU-Souveränität: Resilienz und Versorgungssicherheit stärken

Europa ist verletzlich

Die Sorge vor Versorgungsengpässen durch den russischen Angriffskrieg und die reduzierten Öllieferungen aus Russland haben in Deutschland und Europa unsere Abhängigkeiten bei der Energieversorgung eindringlich vor Augen geführt. Diese potenzielle Versorgungskrise konnte durch alternative Bezugsquellen für Öl und Gas sowie einem verstärkten Ausbau erneuerbarer Energien und Förderungen von Energieeinsparungen abgewendet werden. Dennoch bestehen in Deutschland und auf europäischer Ebene zahlreiche weitere strategische Abhängigkeiten, etwa im Bereich kritischer Rohstoffe oder hochentwickelter Technologien.

Kritische Güter werden aus wenigen Ländern bezogen

Für die grüne und die digitale Transformation werden große Mengen an kritischen Rohstoffen benötigt, die Nachfrage steigt stetig. Ein Großteil dieser Rohstoffe stammt aus nur wenigen Ländern und auch bei der Verarbeitung konzentriert sich das Angebot auf wenige Länder. Die daraus resultierenden Abhängigkeiten bergen Risiken für Europa. Das konzentrierte Angebot führt zu hohen und teilweise volatilen Preisen. Außerdem besteht die Befürchtung, dass der Zugang zu kritischen Rohstoffen als Druckmittel gegen europäische Länder eingesetzt werden kann. Um die Abhängigkeit von kritischen Rohstoffen zu senken, sind Investitionen entlang der gesamten Wertschöpfungskette – von der Mine über die Verarbeitung bis zum Recycling – notwendig. Hier sollte die EU stärker koordiniert vorgehen. Die europäische Verordnung zu kritischen Rohstoffen, der European Critical Raw Materials Act, ist im Mai 2024 in Kraft getreten und stellt einen wichtigen Schritt dar.

Neben den kritischen Rohstoffen ist die EU auch im Bereich der hochentwickelten Technologien in hohem Maße von anderen Ländern abhängig. Dazu zählt auch die Halbleiterindustrie. Chips werden in allen digitalen Produkten verwendet und sind daher für die technologische, aber auch für die grüne Transformation von entscheidender Bedeutung. Die EU hat einen Marktanteil von etwa 10 Prozent und ist daher im großen Stil auf das Angebot von Drittländern angewiesen. Dabei kam es in den letzten Jahren immer wieder zu Engpässen, auch weil die Halbleiterindustrie von wenigen großen Unternehmen dominiert wird. Das europäische Chip-Gesetz nennt als Ziel, den Marktanteil der EU bei Halbleitern bis 2030 auf 20 Prozent zu verdoppeln. Aber auch bei anderen hochentwickelten Technologien wie Prozessoren für künstliche Intelligenz, Cloud-Diensten oder Quantum Computing ist die EU von ausländischen Unternehmen abhängig.

Technologische Souveränität bedroht oder Europa bleibt technologisch auf andere angewiesen

Europa ist technologisch eng mit anderen Ländern verflochten. Internationale Kooperationen sind dabei erwünscht, da sie Innovation und technologischen Fortschritt fördern. Allerdings können diese Verflechtungen die technologische Souveränität gefährden, wenn sie zu einer einseitigen Abhängigkeit von Drittstaaten führen. Eine Analyse von Patentzitationen zeigt, dass nur die USA bilaterale technologische Unabhängigkeiten wahren, wie Abbildung 1 zeigt. Europa hingegen ist in mehrfacher Hinsicht technologisch abhängig – insbesondere von den USA. Die vorliegenden Daten decken aus methodischen Gründen nur den Zeitraum bis 2017 ab. Vor dem Hintergrund der beschleunigten technologischen Entwicklung Chinas gilt es sicherzustellen, dass sich die europäische Abhängigkeit nicht zu unseren Ungunsten verschiebt.

Versorgungsrisiken sind gestiegen

Während der Pandemie kam es zu Produktionsunterbrechungen, die die europäische Versorgung mit Konsumgütern merklich beeinträchtigten. Extreme Wetterereignisse, die aufgrund des Klimawandels immer häufiger auftreten, verursachen zusätzliche Störungen in den Produktions- und Transportketten. Auch Kriege und andere geopolitische Spannungen gefährden die Versorgungssicherheit und führen vermehrt zu protektionistischen Maßnahmen. So hat Donald Trump Kanada und Mexiko, aber auch Europa mit Zöllen gedroht.

Empfehlungen

Versorgungssicherheit europäisch angehen

Europäische Verordnungen entschlossen umsetzen

Der European Critical Raw Materials Act definiert unter anderem Ziele für europäische Kapazitäten entlang der gesamten Wertschöpfungskette. Die neue Bundesregierung sollte diese Verordnung zügig umsetzen, um die strategische Autonomie Deutschlands und Europas zu stärken. Ein zentrales Element ist dabei die Diversifizierung der Lieferketten. Gegenseitige Abhängigkeiten können das Risiko wirtschaftlicher Erpressbarkeit verringern, während neue Freihandelsabkommen die Abhängigkeit von wenigen Ländern bei der Rohstoffversorgung reduzieren können.

Ein koordiniertes europäisches Vorgehen ist dabei unerlässlich. Eine gemeinsame Beschaffung, etwa über eine EU Critical Raw Materials Platform, wie sie Draghi in seinem Bericht vorschlägt, kann den Bedarf der Staaten koordinieren und die Verhandlungsmacht der EU gegenüber Drittstaaten stärken. Um den stark ansteigenden Bedarf an kritischen Rohstoffen in den kommenden Jahren zu decken, sind gezielte Investitionen notwendig. So können einige Rohstoffe auch in der EU gewonnen und durch konsequentes Recycling wichtige Rohstoffe wiederverwertet werden. Darüber hinaus können technische Innovationen den Bedarf an kritischen Rohstoffen senken und so ebenfalls zur Versorgungssicherheit beitragen. Die Bundesregierung sollte sich auf europäischer Ebene für ein gemeinsames Vorgehen einsetzen.

Ein Europäisches Büro für Versorgungssicherheit schaffen

Derzeit fehlt es an systematischen Erhebungen, inwieweit die eigenständigen Maßnahmen der Unternehmen zur Sicherung ihrer Lieferketten durch Diversifizierung und Lagerhaltung ausreichen, um die Versorgungssicherheit in Krisensituationen zu gewährleisten. Um geopolitische Risiken zu identifizieren und Schwachstellen in der Versorgungssicherheit zu analysieren, könnten Stresstests – angelehnt an jene im Bankensektor – ein wirksames Instrument sein. Ein Europäisches Büro für Versorgungssicherheit (European Supply Security Office) könnte dabei eine zentrale Rolle übernehmen: Es hätte die Aufgabe, Daten zur Sicherheit von Lieferketten zu erheben und bereitzustellen, entsprechende Stresstests zu entwickeln und auf Grundlage der Ergebnisse konkrete Handlungsempfehlungen zur Stärkung der Versorgungssicherheit in Europa zu erarbeiten.

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