Europäischer Abend am ZEW wirft Blick in die Zukunft der EU

Bei der Debatte auf dem Podium (v.l.): ZEW-Ökonomin Annika Havlik, Joachim Menze, Guido Wolf, Heike Göbel, ZEW-Ökonom Friedrich Heinemann und Thomas König.

Die Europäische Union steht vor großen Umbrüchen: Themen wie Klimaschutz, Digitalisierung oder Migration bestimmen die politische Agenda. Gleichzeitig gewinnen EU-skeptische Parteien an Bedeutung und mit dem bevorstehenden Brexit drohen massive wirtschaftliche Folgen. Wohin soll es also mit Europa in Zukunft gehen und welche Schwerpunkte soll die neue EU-Kommission auf diesem Weg setzen? Diese zentralen Fragen wurden am Mittwoch, 9. Oktober 2019, beim ersten „Europäischen Abend“ in der Veranstaltungsreihe Wirtschaftspolitik aus erster Hand am ZEW Mannheim aus vielen verschiedenen Perspektiven beleuchtet.

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Das Interesse der Öffentlichkeit an europäischen Themen ist nach wie vor groß. Entsprechend konnte der kaufmännische Direktor des ZEW, Thomas Kohl, zum ersten „Europäischen Abend“ in Mannheim rund 110 Gäste aus Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und Gesellschaft begrüßen. Die Diskutanten/-innen des Abends waren ZEW-Ökonomen/-innen, Experten/-innen für Europapolitik sowie Guido Wolf, Justiz- und Europaminister des Landes Baden-Württemberg.

„Wir feiern 2019 den 20. Geburtstag des Euro – aber niemand feiert wirklich“, eröffnete Prof. Dr. Friedrich Heinemann, Leiter des ZEW-Forschungsbereichs „Unternehmensbesteuerung und Öffentliche Finanzwirtschaft“, sein Impulsreferat. Statt sich über 20 Jahre Euro zu freuen, sei eher auf zehn Jahre Eurokrise zurückgeblickt worden unter der Frage, was schiefgelaufen sei. Dies, so Heinemann, sei ein gutes Beispiel dafür, dass Europa bei zentralen Projekten nach wie vor mit Problemen zu kämpfen habe.

Doch warum nimmt die Euro- und EU-Skepsis immer weiter zu? „Wir können uns nicht mit der Erklärung zufrieden geben, dass wir die Vorteile der EU nur besser kommunizieren müssen“, meinte Heinemann. Auch den Appell, dass nationale Interesse stärker hinter das europäische Interesse zurückzustellen, hält der ZEW-Ökonom als alleinige Maßnahme nicht für zielführend. „Die EU hat nur als Win-Win-Projekt eine Chance.“ Von EU-Reformen sollten alle Mitgliedsstaaten gleichermaßen profitieren.

Auf der Suche nach dem europäischen Mehrwert

Eine der großen Aufgaben der neu gewählten EU-Kommission werde es daher sein, den Mehrjährigen Finanzrahmen (MFR) für die Jahre 2021 bis 2027 festzulegen. „Gut ein Drittel des EU-Budgets wird bislang für Agrarpolitik ausgegeben. Wenn auf einen Euro für die Migrationspolitik hundert Euro für die Agrarpolitik kommen, zeigt sich auf den ersten Blick, dass die Relationen nicht stimmen“, befand Heinemann.

Als Ansatzpunkt für eine Neujustierung des Haushalts schlug der Wirtschaftswissenschaftler das Konzept des europäischen Mehrwerts vor: Es reiche nicht nachzuweisen, dass ein EU-Programm einen bestimmten Nutzen bringe – der Nutzen müsse auch größer sein im Verhältnis zu einem entsprechenden nationalen Programm. „Dann ist es auch gerechtfertigt, das Problem auf europäischer Ebene politisch gemeinsam anzugehen.“ Auf Basis dieses Konzepts hatte Heinemann in einer Studie im Auftrag der Bertelsmann Stiftung zusammen mit Kollegen/-innen untersucht, in welchen Bereichen die EU-Politik tatsächlich einen Mehrwert bringt. Das Ergebnis: Klare europäische Aufgaben sind Asyl- und Verteidigungspolitik, auch Entwicklungshilfe und Unternehmensbesteuerung – nicht aber die Agrarpolitik. Die Suche nach dem europäischen Mehrwert war der Kerngedanke, den Heinemann den Gästen des Europäischen Abends am ZEW mit auf den Weg gab.

Das Vertrauen der Bevölkerung in die Politik steht auf dem Spiel

Im direkten Anschluss gab Guido Wolf Einblicke in die aktuelle Lage der politischen Verhältnisse in Brüssel. „Ursula von der Leyen hat als nächste deutsche EU-Kommissionspräsidentin bereits ein sehr ambitioniertes Programm für die kommenden fünf Jahre vorgelegt“, kommentierte der baden-württembergische Landesminister. Dass man mit Spitzenkandidaten/-innen in die Wahl des EU-Parlaments gestartet sei, sich danach aber kurzerhand von ihnen verabschiedet habe, um wieder mit neuen Personalvorschlägen aufzuwarten, sei vielfach auf Kritik gestoßen. „Das hat zu einem großen Glaubwürdigkeitsverlust geführt, der sich so nicht wiederholen darf.“ Außerdem sprach er sich dafür aus, die Personaldebatten um die neuen Mitglieder der Kommission von der Leyen möglichst bald zum Abschluss zu bringen. „Es gibt zu Recht eine große Erwartungshaltung in der Bevölkerung, dass es endlich zur Sache geht. Die Aufgaben liegen auf dem Tisch, jetzt müssen wir europäische Lösungen finden und damit auch das Vertrauen der Menschen gewinnen.“

Wenn es um die Reformen geht, die er sich von der EU wünscht, bezieht sich Wolf auf das 2018 erarbeitete Europa-Leitbild der Landesregierung Baden-Württemberg, von dem viele Punkte, so der Minister, bereits in der Agenda der neuen Kommission stehen. Mehr Europa forderte er bei seinem Vortrag am ZEW insbesondere mit Blick auf globale Aufgaben, die sich grenzübergreifend besser bewältigen ließen als durch nationale Alleingänge – etwa auf dem diplomatischen Parkett, bei der Verteidigung, bei der Bekämpfung von Terrorismus und organisierter Kriminalität, aber auch bei den Themen Klimaschutz, Digitalisierung und Binnenmarkt.

Auch den weniger Privilegierten konkrete Chancen bieten

Auf die beiden Vorträge folgte eine breit gefächerte Podiumsdiskussion, moderiert von Heike Göbel, Redakteurin für Wirtschaftspolitik bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Neben Guido Wolf und Friedrich Heinemann saßen drei weitere Europa-Experten/-innen mit auf dem Podium. Annika Havlik, ZEW-Ökonomin im Forschungsbereich „Unternehmensbesteuerung und Öffentliche Finanzwirtschaft“, sorgte sich um zunehmende populistische Tendenzen. Das Problem: Menschen aus weniger privilegierten Gesellschaftsschichten hätten häufig nicht die Gelegenheit, die Vorteile der EU unmittelbar mitzuerleben, weil ihnen etwa die Mittel für Reisen ins Ausland fehlen. Deshalb begrüßte sie Vorschläge wie die Einführung von europäischen Austauschprogrammen für Rentner/innen oder für Beschäftigte in kleinen und mittleren Betrieben. „Damit können wir auch die Leute, die die klaren Vorteile der EU nicht direkt sehen, abholen.“

Laut Prof. Dr. Thomas König, Lehrstuhlinhaber für Politikwissenschaft und Europäische Politik an der Universität Mannheim, läuft es langfristig auf eine Entscheidung zwischen zwei Alternativen hinaus: Auf der einen Seite steht die Einführung eines europäischen Parteiensystems, auf der anderen Seite der Verzicht auf die Bearbeitung konfliktreicher Themen auf EU-Ebene und die Rückkehr zu der EU als einem reinem Binnenmarkt-Projekt. „Das Primat der Ökonomie in der EU wird zusehends von einem Primat der Politik abgelöst“, so König, „die Gretchenfrage dabei ist, ob wir ein gemeinsames europäisches Parteiensystem wollen.“

Für die langfristige Entwicklung sieht Joachim Menze die EU zum jetzigen Zeitpunkt gut aufgestellt. Der Leiter der Regionalvertretung der EU-Kommission in München würdigte das Vizepräsidentenprinzip der EU-Kommission und lobte die Aufstellung für die kommenden fünf Jahre: „Ursula von der Leyen hat starke Positionen mit starken Personen besetzt, die in gemeinsamen Projekten und weniger in Zuständigkeiten und administrativen Säulen denken.“ Mit Bezug zu der Frage, was Deutschland für den Zusammenhalt innerhalb der EU tun sollte, warnte Menze, Deutschland könne in Zukunft zur Wachstumsbremse für ganz Europa werden, wenn es die digitale Infrastruktur nicht schnell ausbaue. Daneben meinte Friedrich Heinemann, dass Deutschland in Zukunft stärker zum „Reformpionier“ werden müsse: „Die Briten waren für Europa stets ein Reformmotor, sie haben den Finger in die Wunde gelegt, wenn es um Fehlausgaben oder zu viel Bürokratie ging. Nach dem Brexit liegt es jetzt an Deutschland, reformorientierter zu werden.“

 

Die Vortragsreihe „Wirtschaftspolitik aus erster Hand“ wird vom Förderkreis Wissenschaft und Praxis am Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung e.V., Mannheim, unterstützt.

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