Ein Balanceakt zwischen Markt und Staatseingriffen
StandpunktStaatliche Eingriffe prägen Europas Industriepolitik zunehmend. ZEW-Präsident Prof. Achim Wambach, PhD wirft einen Blick auf marktkonforme Maßnahmen und ihre Herausforderungen.
Industriepolitik ist en vogue. Den Weg geebnet haben im vergangenen Jahr die Berichte von Enrico Letta für das Europäische Parlament, der sich für „eine dynamische und effektive europäische Industriepolitik“ ausspricht, und von Mario Draghi für die Europäische Kommission, der „eine neue industrielle Strategie für Europa“ entwirft. Ende Januar hat die Kommission mit ihrem Wettbewerbskompass dargelegt, wie sie die Vorschläge umsetzen will. An diesem Mittwoch soll nun der Strategieplan zum „Clean Industrial Deal“ veröffentlicht werden. Auf der Agenda steht auch die Umsetzung des „Netto-Null-Industrie-Gesetzes“ von 2023, das eine Verlagerung der Produktion von Umwelttechnologien nach Europa vorsieht.
So sollen bis 2030 mindestens 40 Prozent des jährlichen Bedarfs der EU an sauberen Technologien in Europa hergestellt werden. Zu diesem Zweck sollen die Beihilferegeln, die festlegen, wofür nationale Regierungen Subventionen gewähren dürfen, angepasst werden. Auch werden Änderungen an den Fusionsrichtlinien diskutiert, um es Unternehmen leichter zu machen, Zusammenschlüsse einzugehen, etwa mit Argumenten zur Innovationstätigkeit oder Nachhaltigkeit.
Erhielt 2019 der damalige Wirtschaftsminister Peter Altmaier für seinen Vorschlag einer „nationalen Industriestrategie 2030“ noch viel Kritik, ist der Einsatz industriepolitischer Instrumente in Deutschland mittlerweile die Norm. 2024 wurden 67,1 Milliarden Euro an Finanzhilfen und Steuervergünstigungen an Unternehmen vergeben, 2021 waren es noch 37,9 Milliarden Euro. Viel Aufmerksamkeit bekommen haben die milliardenschweren Förderprogramme für den Batteriehersteller Northvolt, den Chiphersteller Intel oder den Hersteller von Kreuzfahrtschiffen, die Meyer Werft. Im europäischen Vergleich ist Deutschland Spitzenreiter in der Vergabe von Beihilfen, auch wenn man die Zahlen auf das Bruttoinlandsprodukt bezieht.
In den Wirtschaftswissenschaften gibt es vermehrt Studien zur Industriepolitik. Darunter finden sich wirtschaftshistorische Studien wie etwa eine Untersuchung der Auswirkungen der Kontinentalsperre, einer Handelsblockade, die Frankreich Anfang des 19. Jahrhunderts über Großbritannien erlegte. Der temporäre Schutz heimischer junger Industrien durch diese Blockade hatte langfristig die internationale Wettbewerbsfähigkeit dieser Industrien ermöglicht. Untersucht werden auch aktuellere Phänomene wie die Entwicklung der chinesischen Schiffbauindustrie, die mit Staatshilfe ihre Marktanteile zu Beginn der 2000er Jahre enorm ausbauen konnte. Die Studien weisen darauf hin, dass Subventionen nach dem Gießkannenprinzip meist unwirtschaftlich sind. Subventionen, von denen besonders effiziente Unternehmen profitieren, können hingegen zielführender sein. Der Verein für Socialpolitik, die Vereinigung der deutschsprachigen Ökonomen, hat „Revival of Industrial Policy“ als Thema seiner diesjährigen Jahrestagung gewählt.
„Bei Industriepolitik immer ein Auge zugedrückt“
Lange war Industriepolitik in der Wissenschaft ein Randthema, auch weil es politisch ein solches war. Industriepolitik war verpönt, aus gutem Grund: Beispiele für die Überforderung des Staates bei der Wahl der zu fördernden Unternehmen, Wettbewerbsverzerrungen zwischen geförderten und nicht geförderten Unternehmen, von ineffizientem Rent-Seeking der auf Subventionen hoffenden Unternehmen und von unproduktiven Subventionswettläufen gibt es zuhauf. Die Europäische Union hat mit der Beihilfekontrolle bewusst einen Riegel vor eine extensive Subventionspolitik geschoben. Auch die Welthandelsorganisation WTO hält es für zulässig, für Importe von Unternehmen, die im Heimat- oder Produktionsland subventioniert werden, Schutzzölle aufzurufen, um Wettbewerbsverzerrungen zu verhindern. Dennoch war die häufig in Sonntagspredigten zu hörende Losung, der Staat solle sich um die Rahmenbedingungen kümmern und die Wirtschaft einfach machen lassen, genau dies: eine Sonntagspredigt. Oder, wie mir ein älterer Kollege einst sagte: Die Ordnungspolitik ist gegen industriepolitische Eingriffe, aber wir haben immer mal wieder ein Auge zugedrückt.
Wilhelm Röpke, einer der Väter der Sozialen Marktwirtschaft, wurde deutlicher. Er befand, dass es neben der „eingerahmten [. . .] Marktwirtschaft bestimmter wohldosierter und wohlerwogener Eingriffe des Staates“ bedarf. Für ihn war aber auch klar, dass es „für die Wirtschaftspolitik des Interventionismus einen Rubikon gibt“, ab dem ein Zustand erreicht würde, bei dem die Marktwirtschaft „vollends durch den Kollektivismus ersetzt“ würde. Ziele und Art der Eingriffe in den Markt sollten also sorgsam diskutiert und eingehegt werden.
Ziele industriepolitischer Eingriffe: Transformation und Sicherheit
In ihrem Wettbewerbskompass übernimmt die EU-Kommission die drei Handlungsfelder, die Mario Draghi in seinem Bericht postuliert hat: 1. Schließen der Innovationslücke zu den USA und China, 2. ein gemeinsamer Handlungsplan für Dekarbonisierung und Wettbewerbsfähigkeit und 3. Reduktion von Abhängigkeiten und höhere Sicherheit.
Die staatliche Innovationsförderung war schon immer aufgrund der externen Effekte von Innovationstätigkeiten gut begründet: Unternehmen können den volkswirtschaftlichen Nutzen ihrer Innovationen nicht vollständig in Gewinne umsetzen. Deshalb investieren sie tendenziell zu wenig in Forschung und Entwicklung. Das „Ob“ einer staatlichen Förderung von Forschung und Entwicklung ist daher unstrittig, das „Wie“ ist schwieriger. Die Tatsache, dass die USA in den vergangenen 20 Jahren ein um 50 Prozent höheres Wirtschaftswachstum aufwiesen als die EU-Länder, deutet auf grundlegende Schwächen des europäischen Binnenmarktes hin. Zu geringe Forschungsförderung ist dafür aber nur zu einem kleinen Teil verantwortlich: Fehlende Finanzierungsmöglichkeiten und überbordende Regulierung sind maßgebliche Bremsblöcke für das Wachstum von Neugründungen.
Die Transformation hin zur Klimaneutralität stand in den Nachkriegsjahren noch nicht im Drehbuch. Und ein Marktversagen, wie etwa unzureichende Preise für klimaschädliche Emissionen, begründet Eingriffe in den Markt. Im Jahr 2027 werden mit dem Inkrafttreten des zweiten europäischen Emissionshandels knapp 90 Prozent aller Emissionen in Europa einen Preis haben. Da die Anzahl der Emissionszertifikate so gewählt ist, dass die EU-Klimaziele mithilfe des Emissionshandels erreicht werden, werden zusätzliche industriepolitische Eingriffe aus klimapolitischen Gründen immer weniger notwendig. Handlungsbedarf besteht vor allem dort, wo es keine CO2-Preise gibt.
Da weltweit derzeit nicht mit derselben Ambition wie in Europa vorgegangen wird, sind europäische Unternehmen im internationalen Wettbewerb im Nachteil. Innerhalb Europas soll dieser Nachteil durch den Grenzausgleichsmechanismus CBAM (Carbon Border Adjustment Mechanism) reduziert werden: Für bestimmte Gütergruppen werden Importe aus Staaten, die eine weniger strenge Klimapolitik verfolgen, mit einem Zoll belegt. Das ist ein erster Schritt, aber CBAM ist unvollständig und gibt keine Antwort auf die Frage, wie sichergestellt werden kann, dass europäische Unternehmen auf den Weltmärkten außerhalb der EU keine Wettbewerbsnachteile erleiden.
Es lohnt sich, diesen Punkt zu betonen: Mit dem EU-Emissionshandel verschiebt sich die Zielfunktion einer Industriepolitik aus Klimaschutzgründen. Es geht weniger darum, Maßnahmen zu ergreifen, um die EU-Klimaziele zu erreichen (dafür sorgt der Emissionshandel), sondern darum, den heimischen Unternehmen faire Wettbewerbschancen zu bieten, damit sie ihre Produktion nicht ins Ausland verlagern. Dem Standort Europa und den klimaschädlichen Emissionen (Stichwort Carbon-Leakage) wäre damit nicht geholfen.
Der zweite neue Grund für die Industriepolitik ergibt sich aus den Sicherheitsfragen, die nach den Erfahrungen der Pandemie und insbesondere nach dem Ausbruch des Ukrainekriegs aufgekommen sind. Versorgungssicherheit und Aufbau robuster Lieferketten sind in erster Linie Aufgabe jedes einzelnen Unternehmens. Die Unternehmen haben auch reagiert, indem sie ihre Lieferantenbasis stärker diversifiziert haben und vermehrt auf regionale Produktion setzen: in China für China, in Europa für Europa. Die individuelle Absicherung reicht aber nicht unbedingt aus. Es gibt systemische Risiken, die der Markt allein nicht in den Griff bekommt. Wo sie genau liegen, ist oft aber noch unbestimmt – auch dies ist ein Gebiet, mit dem sich die Wissenschaft erst seit einigen Jahren intensiver auseinandersetzt.
Hinzu kommen die neuen Anforderungen an eine stärkere Verteidigungsindustrie. Der geplante Anstieg der Militärausgaben sowie die Notwendigkeit einer stärkeren europäischen Zusammenarbeit werden den Verteidigungssektor umgestalten. Diese Transformation kann eine Chance sein: Während die USA 16 Prozent ihres etwa dreimal höheren Verteidigungsbudgets für Forschung und Entwicklung ausgeben, sind es in der EU nur 4,5 Prozent. Eine Stärkung von F&E hätte Nutzen über die Verteidigung hinaus: Innovationen im Militärbereich finden sich später häufig im zivilen Bereich wieder, umgekehrt werden viele Innovationen aus dem zivilen Sektor, vor allem technische Neuerungen, im Verteidigungssektor genutzt.
Röpke nannte zwei Grundprinzipien, an denen sich ein „liberaler Interventionismus“ zu orientieren habe. Er übernimmt hier den Begriff eines weiteren Vaters der Sozialen Marktwirtschaft: Alexander Rüstow. Das eine Prinzip setzt auf der Zielebene an: Dient eine Maßnahme der „Anpassungsintervention“, um „Härten und Reibungen der Umstellungen und Störungen im Wirtschaftsleben zu mildern“, ist sie eher zu befürworten. Maßnahmen der „Erhaltungsintervention“ hingegen seien als „reaktionär, gefährlich und irrational“ abzulehnen. Die Transformation als Umstellung des Wirtschaftslebens, die Sicherheitsbestrebungen bei Störungen im Wirtschaftsleben sowie der Ausbau der Verteidigungsindustrie würden wohl unter die Kategorie Anpassungsintervention fallen. Die Förderung von Kreuzfahrtschiffproduzenten ist eher der zweiten Kategorie zuzuordnen. Nach der Zielebene folgt die Interventionsebene. Hier wird das zweite Röpke-Prinzip relevant.
Eingriffe marktkonform gestalten
Röpke unterscheidet „konforme und nichtkonforme Eingriffe“. Konform sind Eingriffe dann, wenn sie „den Grundsätzen unseres Marktwirtschaftlichen Systems gemäß [sind] und noch von ihm verdaut werden“. Zu den Grundsätzen gehören beispielsweise das Funktionieren des Preissystems sowie das Verhindern von Marktmacht.
Die EU hat mit ihren beiden Zertifikatshandelssystemen ein marktkonformes Instrument gewählt, um in dieser Begriffskategorie zu bleiben. Der Preismechanismus kann wirken. Unternehmen konkurrieren so auf Basis ihrer Kompetenz und ihrer Technologien, nicht auf Basis ihres Zugangs zur Politik, um die besten Positionen im Markt. Die Bewertung der an die Stahlunternehmen vergebenen Subventionen für die Produktion von grünem Stahl fällt dagegen kritischer aus. Mit ihrer Ausrichtung auf Produktion statt auf Forschung und Entwicklung sind sie als Innovationsförderungsinstrument unzureichend. Aus Sicht des Klimaschutzes geht es um die Transformation der Industrie, nicht aller einzelnen Unternehmen in dieser Industrie. Eine Ausschreibung mit dem Ziel, nur die Unternehmen zu fördern, die die Transformation am günstigsten hinbekommen, hätte zumindest den Wettbewerb um die besten Lösungen angeregt. Noch besser, da marktkonformer, ist die Überlegung, grüne Leitmärkte für Stahl einzurichten, die die Kommission verfolgt. Auflagen, eine bestimmte Menge an Grünstahl zu verbauen, schaffen Märkte für Grünstahl und regen Investitionen an.
Eine solche Marktperspektive gilt es auch bei den Maßnahmen zur Resilienz einzunehmen. Ein bekanntes Beispiel dafür ist der Kapazitätsmarkt im Stromsektor. Der Strommarkt sorgt aus sich heraus nicht für Versorgungssicherheit. Zusätzliche Instrumente sind notwendig. Das ist heute Konsens – vor zehn Jahren wurde dies von der Politik allerdings anders gesehen und wertvolle Zeit verschenkt. Eine marktkonforme Möglichkeit, Versorgungssicherheit herzustellen, ist, einen Markt dafür zu schaffen: Entweder über Kapazitätsmärkte, wie in Großbritannien oder Frankreich, oder über ein verpflichtendes System von Future-Märkten, auf denen Versorger ihre zukünftige Nachfrage absichern müssen. Ähnliches gilt für weitere Märkte: Um die Versorgung mit Impfstoffen sicherzustellen, hat die Bundesregierung mit den Pandemiebereitschaftsverträgen ein entsprechendes System geschaffen. Impfstoffhersteller erhalten Zahlungen, um Produktionskapazität in Deutschland für den Versorgungsfall bereitzustellen. Die Ausgestaltung solcher Märkte ist ein aktives Forschungsgebiet des Marktdesigns.
Diese Instrumente sind notwendigerweise sektorspezifisch und erfordern ein genaues Verständnis der Marktsituation und der systemischen Risiken im jeweiligen Sektor. Um das zu erarbeiten, hat der Wissenschaftliche Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium den Aufbau eines „European Supply Security Office“ empfohlen, das Daten zu Lieferketten bereitstellt, Stresstests in vulnerablen Sektoren entwickelt und Vorschläge für marktkonforme Sicherheitsmaßnahmen erarbeitet.
Industriepolitik in der Sozialen Marktwirtschaft
Das wirtschaftspolitische Leitbild der EU ist die Soziale Marktwirtschaft (Artikel 3, EU-Vertrag). Deren Eckpfeiler ist der freie Wettbewerb, der durch eine starke Wettbewerbspolitik gewährleistet wird. Das Wirtschaftsmodell der Sozialen Marktwirtschaft hat sich als entscheidend für Innovationen, Produktivitätssteigerungen und dauerhaftes Wachstum des Wohlstands erwiesen. Nun kommt die Industriepolitik hinzu. Industriepolitik und Wettbewerbspolitik stehen in einem Spannungsverhältnis. Industriepolitik greift in Märkte ein und zielt auf bestimmte Ergebnisse, etwa die Stärkung eines Sektors oder die Entwicklung bestimmter Technologien. Wettbewerbspolitik hingegen sichert offene Märkte und ist hinsichtlich der Marktergebnisse neutral. Wenn Politiker die Erreichung bestimmter Ziele fordern, wird der freie Wettbewerb gerne als Hindernis angesehen. Nicht marktkonforme, also marktwidrige Eingriffe gehören nach Röpke „in den Giftschrank unserer wirtschaftspolitischen Apotheke“. Das Aushebeln des Preissystems durch den Aufbau von Monopolen, vulgo Europäische Champions, gehört dazu.
Häufig wird argumentiert, dass Subventionen notwendig seien, weil andere, insbesondere die USA und China, dies auch täten. Mit der Wahl von Trump, der den Inflation Reduction Act gestoppt hat, wurde dieses Argument einerseits geschwächt. Andererseits ist die Argumentation von grundsätzlicherem Charakter: Wie bewahrt man Wettbewerbsfähigkeit in einem systemischen Wettbewerb mit einem Wirtschaftsraum, der sich durch Staatslenkung und Subventionen auszeichnet? Auch wenn die Subventionen in China häufig den europäischen Verbrauchern zugutekommen, treten zunehmend Wettbewerbsprobleme auf, insbesondere wenn europäische Unternehmen aus dem Markt gedrängt werden. Dann müssen Schutzinstrumente greifen.
Importe von subventionierten Unternehmen können mit Zöllen belegt werden, wie aktuell chinesische Elektrofahrzeuge. Die EU hat zudem 2023 ein Gesetz verabschiedet, um von Drittstaaten subventionierte Unternehmen sanktionieren zu können, die in der EU produzieren, Unternehmen kaufen oder sich an öffentlichen Ausschreibungen beteiligen. Eine Schutzlücke besteht jedoch im außereuropäischen Wettbewerb. Ähnlich wie beim erwähnten Grenzausgleichsmechanismus besteht auch hier für europäische Unternehmen ein Nachteil, wenn sie in Märkten außerhalb Europas auf subventionierte Unternehmen stoßen. Gerade für Deutschland mit seinen exportorientierten Unternehmen kann dies ein Problem darstellen.
Industriepolitik ist nicht neu, mit Nachhaltigkeit und Resilienz sind neue Motive dafür hinzugekommen. Die Gefahr bleibt, dass man eine „auf den Abweg des Kollektivismus geratende Politik des Interventionismus“ (Röpke) betreibt. Eine enge Eingrenzung der Ziele sowie die Marktkonformität der Eingriffe tragen dazu bei, diesen Abweg zu vermeiden.
Der Beitrag ist die gekürzte Version der Wilhelm- Röpke-Vorlesung, die Achim Wambach am 13. Februar in Erfurt gehalten hat.