Paris mag keine Lektionen aus Brüssel
StandpunktDie französische Finanzpolitik und ihre Überwachung durch die Europäische Kommission erinnern derzeit an einen Scherz von Mark Twain: Verschiebe nicht auf morgen, was Du auch auf übermorgen verschieben kannst.
Seit Jahren verstößt Frankreich gegen die Regeln des europäischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes für die Haushaltdefizite. Dass die französische Regierung es nicht für besonders dringlich hält, etwas dagegen zu tun, mag man für bedauerlich aber wenig überraschend halten. Beunruhigend ist, dass die Europäische Kommission, die eigentlich die nationalen Verschuldungspolitiken in Europa überwachen soll, es genauso wenig für nötig hält, einzuschreiten. Der Fall Frankreich ist wichtig, weil er uns vor Augen führt, dass die Koordination der Finanzpolitik in Europa dringend reformbedürftig ist.
Im Jahr 2009 stieg das Defizit im französischen Staatshaushalt wegen der weltweiten Wirtschaftskrise deutlich an. Anderen Ländern ging es ähnlich. Frankreich hatte allerdings schon 2008 ein Haushaltsdefizit, das mit 3,2 Prozent über der zulässigen Grenze von drei Prozent lag. Im Krisenjahr 2009 stieg es auf 7,2 Prozent an. Die Europäische Kommission empfahl Frankreich im Jahr 2009, das Defizit bis zum Jahr 2012 wieder unter die Drei-Prozent-Grenze zu drücken. Wenig später wurde die Frist bis 2013 verlängert.
Als sich im Jahr 2013 abzeichnete, dass das Defizit bei 4,1 Prozent liegen wird, verlängerte die Europäische Kommission die Frist erneut: Im Jahr 2014 sollte das Defizit auf 3,6 Prozent sinken, im Jahr 2015 auf 2,8 Prozent. Nun hat die französische Regierung mitgeteilt, dass sie 2014 das Defizitziel verfehlen wird – der Fehlbetrag wird sogar auf 4,4 Prozent ansteigen. Im Jahr 2015 wird es noch einmal erhöht, auf 4,5 Prozent. Die Rückführung unter die Schwelle von drei Prozent wurde nun für das Jahr 2017 in Aussicht gestellt. Für die Kommission stellt sich nun die Frage, ob sie Sanktionen gegen Frankreich ergreifen will. Sie hat sich entschieden, nichts zu tun und im März 2015 erneut darüber nachzudenken, ob etwas passieren soll. Der Kommissionspräsident Jean Claude Juncker sagt dazu allen Ernstes, dass Frankreich Lektionen aus Brüssel nicht gerne hört. Die Kommission fordert also nur dann, dass sich die Mitgliedstaaten an vereinbarte Regeln halten, wenn die Mitgliedstaaten das auch „mögen“?
Was kann man daraus lernen? Erstens liegt der entscheidende Fehler der französischen Finanzpolitik nicht darin, in der aktuellen Lage nicht konsolidieren zu wollen, sondern in leichtsinniger Politik in guten Zeiten. Hätte Frankreich vor der Krise für einen annähernd ausgeglichenen Haushalt gesorgt, dann wäre innerhalb der Drei-Prozent-Grenze genug Raum für Konjunkturstabilisierung gewesen. Die Überwachung der Finanzpolitik in Europa sollte in guten Zeiten Solidität einfordern und notfalls zu Sanktionen greifen, statt zu warten, bis das Kind in den Brunnen gefallen ist.
Zweitens ist die Wirkung der europäischen Schuldenaufsicht begrenzt. Sie muss durch Regeln ergänzt werden, die sicherstellen, dass die Käufer von Staatsanleihen haften, wenn ein Mitgliedstaat der Währungsunion überschuldet ist. Der aktuelle Konflikt über das französische Defizit könnte entschärft werden, indem der drei Prozent überschreitende Teil der Neuverschuldung in Form von nachrangigen Anleihen emittiert wird, die nicht mehr bedient werden, wenn Frankreich Hilfen des Europäischen Stabilitätsmechanismus beansprucht oder wenn die Europäische Zentralbank französische Staatsanleihen kauft. Wenn der Rest Europas nicht davon bedroht wäre, für Frankreichs Schulden haften zu müssen, bräuchte Europa Frankreich nicht vorzuschreiben, ob es sich verschulden darf. So lange das nicht erreicht ist, muss Paris sich Lektionen aus Brüssel anhören, egal ob das gemocht wird oder nicht.