Europa und Deutschland bieten sich Chancen für effiziente Strukturreformen

Veranstaltungsreihen

Christoph M. Schmidt stellt das aktuelle Jahresgutachten des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung vor.

Prof. Dr. Christoph M. Schmidt, Vorsitzender der sogenannten Wirtschaftsweisen und Präsident des RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung, hat am 16. November 2016 das Jahresgutachten 2016/17 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung am Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) in Mannheim vorgestellt – und dabei deutlich gemacht, welche Reformen der Euroraum und Deutschland aus Sicht der Wirtschaftsweisen nötig haben. Rund 240 Gäste und Führungskräfte aus Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Zivilgesellschaft verfolgten mit großem Interesse den Vortrag in der Veranstaltungsreihe "Mannheimer Wirtschafts- und Währungsgespräche".

"Es ist immer Zeit für Reformen, gerade jetzt ist es aber notwendig gegen eine rückwärtsgewandte Wirtschaftspolitik zu agieren", sagte Schmidt zum Auftakt seines Vortrags. Deshalb habe der Sachverständigenrat sein aktuelles Jahresgutachten mit "Zeit für Reformen" betitelt – eine Forderung, der dem Sachverständigenrat zufolge sowohl auf nationaler wie europäischer Ebene nachgegangen werden sollte.

Zu Beginn skizzierte Schmidt den derzeit anhaltenden konjunkturellen Aufschwung. "Das Wachstum in Deutschland und Europa übersteigt das Potentialwachstum. Wir befinden uns in Deutschland in einer Überauslastung", erklärte der Ökonom. "Weltweit gehen wir auf einem moderaten Wachstumspfad, der allerdings vielen Risiken ausgesetzt ist." Darunter fielen die politische Unsicherheit in Europa und den USA, geopolitische Risiken sowie der Transformationsprozess in China vom Schwellenland zum welt- und wirtschaftspolitischen Schwergewicht.

"Der Aufschwung ist nicht selbsttragend"

Speziell mit Blick auf das Wachstum habe die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) einen nicht zu unterschätzenden Einfluss. "Das Wirtschaftswachstum in der Eurozone ist hauptsächlich auf die expansive Geldpolitik der EZB zurückzuführen", betonte Schmidt. So verschleiere die quantitative Lockerung als geldpolitische Maßnahme etwa, dass in vielen Mitgliedstaaten der Eurozone die notwendigen Reformen nicht ausreichend vorangetrieben würden und gefährde zunehmend die Stabilität der Finanzmärkte. "Da nach wie vor erhebliche strukturelle Probleme bestehen, ist der Aufschwung nicht selbsttragend", sagte der Wirtschaftsweise.

Gleichermaßen kritisierte Schmidt, dass die sich aus der lockeren Geldpolitik der EZB ergebenden Niedrigzinsen weder für den Euro-Raum noch für Deutschland angemessen wären. "Man sollte den Blick nicht nur auf einen harmonisierten Verbraucherindex, sondern auf weniger schwankungsanfällige Preisindizes, wie den BIP-Deflator oder die Kerninflation, richten." Das instabile Bankensystem in Europa müsse zudem dringend umstrukturiert werden, da es vielen großen Banken im Euroraum an Eigenkapital fehle und der Bankenabwicklung an Glaubwürdigkeit.

Trennung von nationalen und internationalen Verantwortlichkeiten

"Es gibt Angelegenheiten, die aufgrund externer Effekte, besser auf gemeinschaftlicher Ebene organisiert werden können." Dahingehend sprach sich Schmidt für ein stärkeres Subsidiaritätsprinzip auf europäischer Ebene aus. Dies betreffe vor allem Bereiche der Migration, der Klimapolitik oder der öffentlichen Sicherheit. Die Klimapolitik beispielsweise müsse angesichts der weltweiten Wirkung von Treibhausgasemissionen global gestaltet werden. Allerdings seien Herausforderungen der Fiskal-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik eher den nationalen Verantwortlichkeiten zuzuschreiben. So müsse Deutschland im europäischen Kontext seinen fiskalpolitischen Spielraum nutzen.

Kurz ging Schmidt auch auf die Auswirkungen des Brexit-Votums für Europa ein, betonte aber, dass das Votum begleitend und nicht im Jahresgutachten "eingepreist" sei, ebenso wenig wie die Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten. Auf mittelfristige Sicht seien die wirtschaftlichen und politischen Auswirkungen des Brexit-Votums moderat, für die kommenden Verhandlungen sprach er sich für eine Besinnung auf die vier Grundfreiheiten als Kern der EU aus. Als eine konkrete Auswirkung des Votums zeigte er die mögliche Machtverschiebung in Europa auf. "Die Machtbalance in Europa wird sich zugunsten von Staaten wie Deutschland, den Niederlanden oder Irland verschieben."

Reformen in Deutschland sind überfällig

"Der Zeitpunkt ist entscheidend", sagte Schmidt zu den Reformvorschlägen der Wirtschaftsweisen für Deutschland. Mit seinem Einwand "die beste Zeit für Reformen ist nicht zwangsläufig in Notzeiten", übte er Kritik an der Reformbilanz der deutschen Bundesregierung in der laufenden Legislaturperiode.

Als einen zentralen Aspekt für Veränderungen betont er die Debatte über die Entwicklung der Ungleichheit von Einkommen und Vermögen. Die Vermögensungleichheit sein Deutschland in den vergangenen Jahren massiv gestiegen. Dies machte er unter anderem daran fest, dass die realen Vermögenszuwächse in den Jahren 2010 bis 2014 nur bei mittleren Vermögen vorhanden sind. Als Lösung plädierte er für mehr Chancengerechtigkeit, die etwa durch Investitionen in frühkindliche Bildung angeschoben werden könnte. Als weiteren Aspekt des Reformbedarfs sprach sich Schmidt für eine nachhaltigere Gestaltung des Rentenpakets aus. Die Rentenversicherung in der Bundesrepublik sollte an die gestiegene Lebenserwartung gekoppelt werden, um diese so „demographiefest“ zu machen. "Das Rentenniveau ist kein Niveau, sondern eine relative Größe. Wir dürfen nicht auf Kosten der nachfolgenden Generation leben, sondern müssen intergenerationale Gerechtigkeit fördern", schloss Schmidt. 

 

Die Vortragsreihe Mannheimer Wirtschafts- und Währungsgespräche wird von der Bankenvereinigung Rhein-Neckar Mannheim unterstützt.