Der wirtschaftliche Rückenwind in Europa und Deutschland will genutzt werden
VeranstaltungsreihenEuropa steht momentan wirtschaftlich gut da, Deutschland seit geraumer Zeit noch besser. Die künftige Bundesregierung sollte den konjunkturellen Rückenwind für Reformen nutzen – angesichts großer Herausforderungen wie demographischem Wandel, Klimaschutz, Migration, Digitalisierung und der Weiterentwicklung Europas. Auf diese Essenz brachte Prof. Dr. Christoph M. Schmidt, Vorsitzender der sogenannten Wirtschaftsweisen und Präsident des RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung, das Jahresgutachten 2017/18 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung am Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) in Mannheim. Schmidt stellte in der Vortragsreihe „Wirtschaftspolitik aus erster Hand“ am 28. November 2017 die Schlaglichter des aktuellen Gutachtens vor und machte deutlich, wo die Akzente für eine nachhaltige Wirtschaftspolitik in Deutschland und Europa aus Sicht der Wirtschaftsweisen gesetzt werden sollten.
Die deutsche Volkswirtschaft leistet, was sie kann. „Wir haben einen lang anhaltenden Aufschwung hinter uns“, befand Christoph Schmidt vor rund 170 Gästen und Führungskräften aus Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft am ZEW, „alle Zeichen stehen auf positiv, insbesondere auch in Europa.“ Aktuell rechnen die Wirtschaftsweisen mit einem Wachstum des hiesigen Bruttoinlandsprodukts (BIP) von zwei Prozent im auslaufenden Jahr und mit 2,2 Prozent im kommenden Jahr. Für den Euro-Raum werde ein BIP-Wachstum von 2,3 Prozent im Jahr 2017 und 2,1 Prozent im Jahr 2018 erwartet, so Schmidt.
Die Konjunktur in Deutschland fuße auf einem breiten Fundament: Die stabile Beschäftigung sorge für stabile Einkommen und für dementsprechend stabiles Konsumverhalten der privaten Akteure. Das alles vor dem Hintergrund von steigenden Exporten und Importen, wiederum beflügelt durch den länderübergreifenden Aufschwung im Euroraum. „Wir sehen überall ein Wachstum der Erwerbstätigen“, führte Schmidt aus. Selbst Spanien als eines der am schlimmsten von der jüngsten Krise betroffenen Länder sei auf dem Weg der Erholung. „Nur Italien ist zum großen Sorgenkind innerhalb des Währungsraums mutiert“, räumte der Wirtschaftsweise ein mit Blick auf die Staatsschulden und den desolaten Bankensektor des südeuropäischen Landes.
"Unsere wirtschaftlichen Kapazitäten sind ausgelastet"
Allein die preisliche Wettbewerbsfähigkeit der Bundesrepublik sei leicht zurückgegangen, das Lohnwachstum übersteige mittlerweile das Produktivitätswachstum. Dann holte Christoph Schmidt zum großen „Aber“ aus: „Unsere wirtschaftlichen Kapazitäten sind ausgelastet, das bedeutet, dass es schwieriger wird, bestehende Wachstumschancen noch zu ergreifen.“ Die fünf Sachverständigenräte seien deshalb zu dem Schluss gelangt, dass es zeitnahe Reformen brauche, die das Potenzialwachstum anheben – zumal der deutliche Haushaltsüberschuss alle Möglichkeiten dafür biete.
Schmidt zufolge speist sich ein großer Teil der soliden öffentlichen Finanzen aus über die Zeit aufgelaufenen Erträgen aus der kalten Progression sowie aus dem nach wie vor existierenden Solidaritätszuschlag. Eine prozyklische Fiskalpolitik sollte jedoch aufgrund der wirtschaftlichen Überauslastung vermieden werden. „Steuerreformen auf den Weg bringen, ohne starke fiskalpolitische Stimuli zu setzen“, erläuterte der Ökonom, „dieses Paket muss die Bundesregierung lösen.“ Zusätzlich zu weiteren drängenden Problemen, wie deutlich wurde.
Mit den kürzlich gescheiterten Sondierungsgesprächen für eine sogenannte Jamaika-Koalition auf Bundesebene sei vorerst auch die Chance auf dringend nötige Impulse bei der Energiewende vom Tisch. „An der Grundidee und den Zielen der Energiewende sollte nicht gerüttelt werden“, mahnte Schmidt. Nur müssten die Instrumente zur Umsetzung angepasst werden, etwa über mehr Markt im Klimaschutz durch eine arbeitsteilige Organisation und Kopplung der drei Sektoren Mobilität, Strom- und Wärmeerzeugung mit Blick auf die CO2-Preisbildung. Zugleich verlange die Digitalisierung der Arbeitswelt einen Strukturwandel ab. Der Sachverständigenrat, betonte Schmidt, empfehle die Einrichtung einer Digitalisierungskommission, „um Regulierungsbedürfnisse und -hemmnisse zu identifizieren und Innovationsfähigkeiten auszubauen“.
Zurück zum Subsidiaritätsprinzip in Europa
Mit Blick auf die anhaltend expansive Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) forderte der Wirtschaftsweisenchef regelmäßige eigene Prognosen der EZB, die als verlässliche Signale für eine Absehbarkeit der EZB-Politik dienen sollten. Zugleich unterstrich Schmidt, dass der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) ein unverzichtbares Werkzeug für das Krisenmanagement in Europa sei, das jedoch ausgebaut werden müsse. Generell hätten sich die Mitglieder der Europäischen Union die Frage zu stellen, wo gemeinsames Handeln erforderlich sei für eine Weiterentwicklung des Kontinents und wo nicht. „Das führt uns zurück zum Prinzip der Subsidiarität“, schloss Schmidt. Während der ESM Potenzial verspräche, seien Überlegungen wie eine gemeinsame EU-Arbeitslosenversicherung oder eine tiefergehende EU-Fiskalpolitik hingegen weniger wünschenswert.
Am Ende des Vortrags öffnete ZEW-Präsident Prof. Achim Wambach, PhD den Dialog zwischen Christoph Schmidt und dem Publikum. Fragen kamen auf: Sollte der steuerpolitische Hebel nicht viel mehr gezielt bei den mittleren und niedrigen Einkommen angesetzt werden als bei der kalten Progression? Was wären die volkswirtschaftlichen Folgen der Einführung eines Grundeinkommens? Und müssen wir künftig eher auf bilaterale Freihandelsabkommen zurückgreifen, wenn multilaterale Verhandlungen scheitern? Die Diskussion zwischen Referent, Moderator und Gästen zeigte, dass die Arbeit des Sachverständigenrates durchaus Anstöße für weitere wirtschaftspolitische Baustellen liefert.
Die Vortragsreihe „Wirtschaftspolitik aus erster Hand“ wird vom Förderkreis Wissenschaft und Praxis am Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung e.V., Mannheim, unterstützt.
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