Europa muss seine Stärken gegen globale Verfallserscheinungen ausspielen
VeranstaltungsreihenWährend sich Teile der internationalen Staatengemeinschaft zusehends vom Multilateralismus verabschieden, hat Deutschland mit Skepsis gegenüber Migration und Digitalisierung sowie einer Überalterung seiner Gesellschaft zu kämpfen. Um den globalen Verfallserscheinungen entgegenzutreten, braucht es ein starkes Europa. Und um der demographischen Entwicklung entgegenzutreten, muss Deutschland den Strukturwandel durch die digitale Transformation zulassen. Auf diese beiden zentralen Aspekte brachte die Wirtschaftsweise Prof. Dr. Isabel Schnabel die aktuellen Empfehlungen des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung an die Politik.
Vor rund 140 Gästen stellte die Finanzmarktexpertin von der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn das kürzlich veröffentlichte Jahresgutachten des Sachverständigenrates am Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW), Mannheim, in der Vortragsreihe „Wirtschaftspolitik aus erster Hand“ am 21. November 2018 vor – und mahnte dabei an, dass sowohl Deutschland als auch Europa vor einem Wendepunkt stehen angesichts eines nachlassenden Wirtschaftswachstums und weltweit zurückgehenden Expansionstempos bei gleichzeitig steigenden internationalen Risiken.
„Wir identifizieren gegenwärtig zwei große Trends: global eine Abkehr vom Multilateralismus und in Deutschland die Folgen des demographischen Wandels“, führte Schnabel aus. Während sich das außenwirtschaftliche Umfeld durch den internationale Handelskonflikt sichtlich eintrübe und Zollerhöhungen eine weitere deutliche Verschärfung bedeuteten, sei Deutschland auf eine Gesellschaft angewiesen, die offen mit Innovationen umgehe und keine Angst vor der Digitalisierung haben dürfe. „Wir sollten in Europa auf Liberalismus anstatt auf Protektionismus setzen“, forderte die Ökonomin.
Um auf die globalen Umstände – befeuert durch den Ausstieg der USA aus der lockeren Geldpolitik und die massive Verschuldung Chinas – zu reagieren, sollte Europa neue Freihandelsabkommen mit weiteren Regionen schließen und das multilaterale Regelwerk der Welthandelsorganisation WTO stärken. Letzteres, so Schnabel, könne zum Beispiel durch schärfere Regeln zur Eindämmung marktverzerrender Subventionen und besseren Schutz geistigen Eigentums geschehen – selbstredend unter dem Dach der WTO, die jedoch ihrerseits auch auf Reformen angewiesen sei.
"Der Ausstieg der USA aus dem Pariser Abkommen wirft um Jahre zurück"
Für Europa gelte es indes, eigene protektionistische Maßnahmen zu vermeiden wie etwa Einspruchsrechte bei ausländischen Firmenübernahmen von außerhalb der Europäischen Union oder eine Sondersteuer auf die Umsätze digitaler Unternehmen. Gerade durch neue digitale und zunehmend auch mobile Geschäftsmodelle würden besondere Herausforderungen entstehen, allen voran für Deutschland.
Von dem schwelenden Handelskonflikt könne Deutschland kurzfristig zwar profitieren, da es zu Handelsumlenkungseffekten käme, die wiederum der exportgetrieben Wirtschaft hierzulande in die Karten spielen würde. „Langfristig wird es aber nur Verlierer geben“, befand Schnabel. Die multilaterale globale Wirtschaftsordnung, die bislang weltweit Wohlstand geschaffen habe, drohe sich durch den Handelsstreit aufzulösen. Intensivere internationale Kooperationen seien daher nötig, zumal nationale Alleingänge höchst ineffizient seien, wie die internationalen Verhandlungen zum Klimaschutz zuletzt gezeigt hätten.
„Wir brauchen ein global koordiniertes Vorgehen, der Ausstieg der USA aus dem Pariser Abkommen wirft die bisherigen Bemühungen um Jahre zurück“, erläuterte Schnabel. Langfristiges Ziel müsse ein einheitlicher, sektorenübergreifender und globaler CO2-Preis sein. Umweltbelastungen durch Feinstaub und Stickoxid-Emissionen seien dabei ein lokales Problem, das nur zum Teil durch Diesel-Fahrzeuge verursacht sei. Zur Lösung sei eine Städte- oder City-Maut, wie sie auch das ZEW vorgeschlagen hat, besser als Fahrverbote.
"Abwarten ist keine Option"
Um global stark auftreten zu können, müsse Europa zunächst mit dem Brexit fertig werden. Rund acht Prozent der EU-Nettoeinnahmen würden mit dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Gemeinschaft wegfallen. „Das sollte Anlass dafür sein, die grundlegende Struktur des EU-Budgets zu hinterfragen“, betonte Schnabel. Die bislang so positive makroökonomische Entwicklung biete jetzt eine Chance zur Rückkehr zu einer normalen Geldpolitik im Euroraum, um für kommende Krisen gewappnet zu sein. Zudem biete es sich in konjunkturell guten Zeiten an, Staatsschulden abzubauen.
„Das größte Risiko geht aus meiner Sicht von der Situation in Italien aus, die zeigt, dass die Währungsunion noch immer nicht stabil ist“, warnte die Wissenschaftlerin. Es gebe Hinweise auf Ansteckungseffekte für andere EU-Mitgliedstaaten und insbesondere Banken. Eine Weiterentwicklung des Europäischen Stabilitätsmechanismus müsse daher ebenso entschieden vorangetrieben werden wie die Bankenunion.
Der Sachverständigenrat sehe momentan zwar noch keine Hinweise auf eine drohende Rezession. Unter dem Eindruck eines langsameren Wachstums und unabsehbarer wirtschaftlicher Konsequenzen des Brexits, der vor allem exportorientierte Länder wie Deutschland treffe, sei aber klar: „Ohne Migration können wir es nicht schaffen“, so Schnabel. Das „Beschäftigungswunder“ der vergangenen Jahre in Deutschland gehe zu 50 Prozent auf das Konto ausländischer Personen, ein Fachkräftezuwanderungsgesetz sei deshalb unentbehrlich. Um wettbewerbsfähig zu bleiben, seien zudem Investitionen in digitale Infrastruktur sowie Informations- und Kommunikationstechnologien das Gebot der Stunde. „Die Politik ruht sich bisher auf der konjunkturellen Entwicklung aus, nur ist Abwarten im Moment keine Option“, stellte Schnabel klar.