Die Rechtsstaatlichkeit in Europa birgt Konflikte
European IntegrationEuGH-Generalanwältin Juliane Kokott spricht am ZEW über neue Herausforderungen für Europas Judikative
Der Europäische Gerichtshofs (EuGH) bemüht sich um die Wahrung der Rechtsstaatlichkeit in der Europäischen Union und muss dabei die eigene Rechtsprechung in Einklang mit der Jurisdiktion in den EU-Mitgliedstaaten bringen – eine komplexe Aufgabe, die mit Hürden gespickt ist, wie Prof. Dr. Juliane Kokott, Generalanwältin am Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, am 17. Oktober 2019 in der Veranstaltungsreihe Wirtschaftspolitik aus erster Hand am ZEW Mannheim eindrücklich schilderte.
In ihrer Funktion als öffentliche Berichterstatterin innerhalb der EU-Judikative rollte Kokott vor rund 130 Gästen aus Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft aktuelle Fälle auf, die zeigten, wie konfliktreich die Rechtsstaatlichkeit im Verhältnis zwischen europäischer und nationaler Ebene ist. „Der EuGH setzt sich mit heiklen, hochpolitischen Fragen auseinander“, unterstrich die Juristin, die als Generalanwältin den EuGH unterstützt, indem sie begründete Entscheidungsvorschläge – sogenannte Schlussanträge – abgibt, und damit Urteilsentwürfe verfasst. „Für die Öffentlichkeit setzen unsere Schlussanträge ein erstes Zeichen, wie die Entscheidung des EuGH letztlich aussehen könnte“, erklärte Kokott.
Am ZEW stellte sie in Ihrem Vortrag, der im Rahmen des „Leibniz-WissenschaftsCampus MannheimTaxation“ stattfand, auf sensible Vertragsverletzungsverfahren in jüngster Zeit ab. „Die Rechtsstaatlichkeit als solche wurde in Europa lange Zeit grundsätzlich als gegeben angesehen“, betonte Kokott. Ihre Ausführungen machten allerdings klar, dass es sich hierbei um keine Selbstverständlichkeit handelt. Sorgen um die Rechtsstaatlichkeit hielten etwa mit Blick auf Ungarn schon deutlich länger an als mit Blick auf Polen, so Kokott.
Im Verfahren gegen Ungarn ging es um die vorzeitige Pensionierung von Richtern/-innen und Staatsanwälten/-innen. Vorgesehen war dabei, das zulässige Alter der Beamten/-innen zunächst von 70 Jahren auf 62 Jahre herabzusenken, und anschließend wieder schrittweise auf 65 Jahre anzuheben. Das hätte auf einen Schlag viele Richter/innen und Staatsanwälte/-innen aus dem Amt gekegelt, schilderte Kokott, die als EuGH-Generalanwältin mithin für das Verfahren zuständig war. „Mit der Unabhängigkeit der Gerichte ist eine Zwangspensionierung von Richtern unvereinbar“, so ihr Befund. Altersgrenzen für Beamte in derart hohen Positionen könnten nur unter bestimmten Bedingungen gerechtfertigt sein, beziehungsweise greife in diesem Fall das Verbot der Altersdiskriminierung – ebenso wie im Fall Polens.
Die Qualität der Justizorganisation steht auf dem Prüfstand
Im Zuge einiger polnischer Justizreformen hatte der EuGH am Ende entsprechend geurteilt, die bereits vorzeitig pensionierten Richter/innen wieder ins Amt zurückzuholen. Polen habe seine Position zwar damit verteidigt, dass ähnliche Verfahren auch in anderen EU-Mitgliedstaaten praktiziert würden, legte Kokott dar. Verstöße gegen das EU-Vertragsregelwerk ließen sich mit diesem Argument jedoch kaum rechtfertigen.
Die Beispiele Ungarns und Polens veranschaulichten, „dass der EuGH zunehmend Fragen nach Qualität der Justizorganisation in den Mitgliedstaaten bearbeitet“, fasste Kokott zusammen. Anknüpfungspunkt dafür sei wiederum das Rechtstaatsprinzip. Indes: „Zweifel an der Rechtsstaatlichkeit in diesen Ländern mögen unseren Vorurteilen entsprechen, das bedeutet aber nicht, dass andere EU-Mitgliedstaaten darüber erhaben sind“, sagte Kokott. So gerieten aus rechtsstaatlicher Perspektive bislang unauffällige EU-Mitglieder in den Fokus des EuGH, beispielsweise seien auch Fälle in Portugal und Deutschland anhängig, die sich im Kern um die Unabhängigkeit der jeweiligen nationalen Gerichte drehten.
„Wir müssen mit den maßgeblichen Akteuren im Spiel bleiben“
Während es im Verfahren gegen Portugal um die Besoldung von Richter/-innen ging, die im Zuge der Finanz- und darauffolgenden Wirtschaftskrise von 2007/08 gekürzt wurden, sei in Deutschland der Rechtsstatus kirchlicher Arbeitgeber „ein besonders heißes Eisen zwischen EuGH und Bundesverfassungsgericht“. Das zeige sich deutlich daran, dass – neben den Streitfällen der Wiederheirat eines katholischen Oberarztes und dem Tragen eines Kopftuchs am Arbeitsplatz – im Fall einer konfessionslosen Bewerberin für eine kirchliche Tätigkeit, der zuerst abgesagt worden war, nun in Karlsruhe eine Verfassungsbeschwerde des Arbeitgebers auf dem Tisch liege.
Wie Kokott klarstellte, trete die Rechtsstaatlichkeit erst in jüngster Zeit in den Fokus ihrer und der Tätigkeit des obersten EU-Rechtsorgans. Die grundsätzlich enge Verknüpfung von Rechtsstaatlichkeit, Grundrechten und Demokratie verbiete es, eine dieser Säulen als rein innerstaatliches Hoheitsgebiet zu verstehen. „Wir müssen mit den maßgeblichen Akteuren im Spiel bleiben“, betonte die Generalanwältin. Zu diesen Akteuren zählen allerdings auch die gesetzgebende und ausführende Gewalt, wie die von ZEW-Präsident Prof. Achim Wambach, PhD moderierte Debatte am Ende des Vortrags ans Licht brachte.
Im Dialog mit dem ZEW-Präsidenten lieferte sich Kokott einen Schlagabtausch über das Verfahren zur Ernennung von Richtern/-innen in Demokratien sowie darüber, dass Funktion und Rolle des EuGH über die reine Anwendung des Unionsrechts hinaus eine normativ geprägte Dimension erreicht. In eine ähnliche Richtung gingen die Fragen aus dem Publikum: Ist der EuGH ein Anwalt des Subsidiaritätsprinzips in Europa, vor allem mit Blick auf die aktuelle Geldpolitik? Bringt die Pflicht zur einstimmigen Entscheidung des EuGH in der Praxis Patt-Situationen mit sich? Und in welchem Verhältnis stehen EU-Grundrechtecharta und Europäische Menschenrechtskonvention? Die Diskussion darüber zeigte jedenfalls, dass diese Eisen heiß bleiben.
Die Veranstaltungsreihe Wirtschaftspolitik aus erster Hand wird vom Förderkreis Wissenschaft und Praxis am Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung e.V., Mannheim, unterstützt.