Deutschland steht unmittelbar vor dem Strukturwandel
VeranstaltungsreihenChristoph M. Schmidt stellt Jahresgutachten der Wirtschaftsweisen am ZEW vor
Während Konjunktur und Welthandel schwächeln, stehen wir kurz vor der Vollendung eines Jahrzehnts – und damit unmittelbar vor prägenden strukturellen Veränderungen wie dem demographischen Wandel, der Digitalisierung und dem Klimawandel, mit denen Wirtschaft, Politik und Gesellschaft in der kommenden Dekade gleichermaßen fertig werden müssen. Allerdings gibt es Wege, diese Herausforderungen in den Griff zu bekommen – welche das sind, zeichnete der Vorsitzende der sogenannten Wirtschaftsweisen und Präsident des RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung, Prof. Dr. Dr. h.c. Christoph M. Schmidt, am ZEW Mannheim vor.
In der Vortragsreihe „Wirtschaftspolitik aus erster Hand“ warf Schmidt am 5. Dezember 2019 Schlaglichter auf das aktuelle das Jahresgutachten 2019/20 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung – einem Gremium, das in seiner politik- und gesellschaftsberatenden Funktion die Aufgabe eines kritischen Beobachters hat, wie der Wirtschaftsweise betonte. Vor rund 180 Gästen aus Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft erläuterte der Ökonom am ZEW, welche Wege für Deutschland derzeit offen stehen, um Fehlentwicklungen zu vermindern oder bestenfalls sogar ganz zu vermeiden.
„Das Wachstumstempo der Weltwirtschaft ist verlangsamt, der Welthandel sehr schwach“, schickte Schmidt seinen Ausführungen voraus und fügte hinzu: „Für eine offene Volkswirtschaft ist dieser Umstand besonders nachteilig – und keine andere Volkswirtschaft ist so auf offene Märkte angewiesen wie wir.“ Demnach sei im auslaufenden Jahr mit einem relativ schwachen Wachstum des realen Bruttoinlandsprodukts (BIP) in Deutschland von 0,5 Prozent zu rechnen. Für 2020 erwarten Schmidt und seine sachverständigen Kollegen/-innen 0,9 Prozent reales BIP-Wachstum hierzulande – allerdings einschließlich der höheren Zahl an Arbeitstagen. „Kalenderbereinigt“, wie es im Jahresgutachten heißt, wird die deutsche Wirtschaft im nächsten Jahr voraussichtlich ebenfalls nur um 0,5 Prozent wachsen. Für den Euro-Raum rechnen die Sachverständigen mit einer konjunkturellen Abschwächung des realen BIP von 1,2 Prozent in diesem sowie von 1,1 Prozent im kommenden Jahr.
Zwischen zyklischem Abschwung und strukturellen Veränderungen
Genauer betrachtet ist es den Analysen zufolge momentan vor allem die Industrie, die schwächelt – „und zwar länderübergreifend aufgrund einer schwer auseinanderzuhaltenden Mischung aus zyklischem Abschwung und strukturellen Veränderungen“, wie Schmidt betonte. Hinzu komme „ein erhebliches Element der Unsicherheit“, das sich vor allem aus internationalen Handelskonflikten, einem scheinbar nicht enden wollenden Brexit und anstehenden Regulierungen wie etwa in der Klimapolitik speise. Von einer breiten, tiefergehenden Rezession sei indes nicht auszugehen.
Die weitere Lockerung der Geldpolitik seitens der Europäischen Zentralbank erklärte Schmidt für „keine gute Idee“. Der expansive Kurs der EZB würde unnötig Handlungsmöglichkeiten verfeuern, die eher in der Phase eines stärkeren Abschwungs genutzt werden könnten. Ebenso expansiv stelle sich die Fiskalpolitik der Bundesregierung in der kommenden Zeit dar, da größere Ausgaben in der Klimapolitik einzupreisen seien. Nach Ansicht der Wirtschaftsweisen würde es auf diesem Gebiet allerdings reichen, „automatische Stabilisatoren“ – wie etwa die Arbeitslosenversicherung – „wirken zu lassen“, sagte Schmidt.
Mit Blick auf die strukturellen Veränderungen werde im kommenden Jahrzehnt der demographische Wandel voll zu Buche schlagen, wenn eine große, geburtenstarke Alterskohorte den Arbeitsmarkt verlasse, während sich das Arbeitsumfeld durch neue technologische Entwicklungen zusehends verschärfe. „Alle hochentwickelten Volkswirtschaften sind seit den 1970er Jahren auf dem Pfad einer schwachen Produktivitätsentwicklung“, ergänzte Schmidt. Doch, so der Kopf der Wirtschaftsweisen, unter dessen Ägide bisher sieben Jahresgutachten entstanden sind, der Strukturwandel lasse sich meistern, wenn die Politik in fünf Punkten den Rahmen zielgerichtet absteckt.
Zu diesen Punkten zählte Schmidt eine nicht nur effiziente, sondern vor allem schnelle Zuweisung von vorhandenen Ressourcen, die Förderung von Forschung und Innovationen über eine diskriminierungsfreie, transparente und evaluierte Wirtschafts- und Industriepolitik, das Heben von ungenutzten Potenzialen am Arbeitsmarkt – etwa durch die stärkere Teilhabe von Frauen und Älteren am Arbeitsmarkt, Zuwanderung, Aus- und Weiterbildung sowie größerer Chancengerechtigkeit –, eine Steigerung der privaten und öffentlichen Investitionen sowie schließlich ein stärker koordiniertes Vorgehen auf internationaler Ebene vor allem in der Klimapolitik.
„Innovationspolitik muss technologieoffen sein“
„Deutschland ist enorm darauf angewiesen, dass das internationale Handelsumfeld liberal bleibt“, befand Schmidt. Dahingehend könne sich die Bundesrepublik keine nationalen Alleingänge leisten. In diesem Sinne müsse Industriepolitik gleichzeitig auch Innovationspolitik bedeuten – „und Innovationspolitik muss technologieoffen sein“, so der Wirtschaftsweise. Dies ließe sich über die Generierung von mehr Wagniskapital für junge Unternehmen durch streuerliche Anreize sowie eine weitere Vertiefung der Kapitalmärkte in Europa anschieben.
In der Diskussion mit ZEW-Präsident Prof. Achim Wambach, PhD im Anschluss an den Vortrag wurden Fragen aufgeworfen, die die dargelegten Punkte des Wirtschaftsweisen vertieften. Ist eine eigene Schuldenbremse in Deutschland noch notwendig, wenn es dafür auf europäischer Ebene eine Lösung gibt? Sollte der Bund den Kommunen bei der Entschuldung unter die Arme greifen, um Spielräume für den hohen Investitionsbedarf auf kommunaler Eben zu schaffen? Und reicht die Forderung nach einer technologieoffenen Innovationspolitik, wenn es zugleich Härten in den traditionellen Industrien abzufedern gilt?
Aus dem Publikum kam die Frage auf, ob uns der Atom- und Kohleausstieg gelingen, aber der Umstieg hin zu erneuerbaren Energie misslingen wird, angesichts eines augenscheinlich recht unfertig geschnürten Klimapakets. In diesem Punkt verwies Christoph Schmidt auf ein Sondergutachten der Wirtschaftsweisen zu just jenem Thema. „Der nächste Schritt in der Klimapolitik kann nur ein europäisch und international einheitlicher CO2-Preis sein“, unterstrich der Sachverständige – und illustrierte damit, dass Politik und Gesellschaft noch einiges zu tun bleibt.
Die Vortragsreihe „Wirtschaftspolitik aus erster Hand“ wird regelmäßig vom Förderkreis Wissenschaft und Praxis am Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung e.V., Mannheim, unterstützt, der an diesem Abend das zweite Jahr infolge zwei Wissenschaftspreise an herausragende Forschungs- und Beratungsprojekte von ZEW-Wissenschaftlern/-innen vergab.