Nicht nur bei Corona verändert exponentielles Wachstum unser Leben
StandpunktStandpunkt von ZEW-Präsident Achim Wambach
„Exponentielles Wachstum“ hätte es verdient, der Begriff des Jahres 2020 zu werden. Schulbücher in Mathematik werden zukünftig auf dieses Jahr und die Corona-Krise verweisen, wenn sie den Begriff einführen. Dabei ist das Wachstum der Virusausbreitung nicht der einzige exponentielle Prozess, der unser Leben maßgeblich beeinflusst.
Die Maßnahmen zu Kontaktbeschränkungen, die so massiv in unser Leben eingegriffen haben, wurden begründet mit der Sorge vor einem unkontrollierten „exponentiellen Wachstum“ der Infektionen durch das Corona-Virus. Bundeskanzlerin Merkel erklärte das Konzept des exponentiellen Wachstums Ende September 2020 eindrücklich: „Wir hatten Ende Juni, Anfang Juli an manchen Tagen 300 neue Infektionen. Und wir haben jetzt an manchen Tagen 2.000 Infektionen. Und das heißt nichts anderes, als dass sich über Juli, August, September in drei Monaten die Infektionszahlen dreimal verdoppelt haben. Wenn das in den nächsten drei Monaten Oktober, November, Dezember weiter so wäre, dann würden wir von 2.400 auf 4.800, auf 9.600, auf 19.200 kommen." Und so kam es dann auch: Die Zahl von 20.000 Neuinfektionen pro Tag wurde Mitte November überschritten.
Indessen gewinnt nicht nur die Corona-Krise ihre Brisanz durch exponentielles Wachstum. Die Digitalisierung, wie wir sie heute sehen, wäre nicht möglich gewesen ohne das exponentielle Wachstum der digitalen Leistungsfähigkeit: „Moore’s law“ beschreibt das Phänomen, dass sich die Anzahl der Transistoren auf einem Computerchip seit 1970 etwa alle zwei Jahre verdoppelt hat. Die gewaltige Rechenkraft, die uns heute zur Verfügung steht – viele Millionenfach größer als 1970 –, hat Anwendungen wie Big Data und Künstliche Intelligenz im großen Maßstab erst möglich gemacht.
Jeder Prozess, der eine konstante Wachstumsrate aufweist, wächst exponentiell. Ein weiterer solcher Prozess, der unser Leben maßgeblich beeinflusst, ist das Wirtschaftswachstum. Ein konkretes Beispiel: Die chinesische Wirtschaft ist in den vergangenen Jahrzehnten mit einer Rate von über zehn Prozent pro Jahr gewachsen. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP), vereinfacht gesagt die Wirtschaftskraft, hat sich in China also alle sieben Jahre verdoppelt. War das BIP in China 1990 rund ein Achtzehntel des Europäischen BIPs, war es 2000 schon ein Sechstel, 2010 gut ein Drittel und 2020 ist es fast genau so groß. Mittlerweile sind die Wachstumsraten in China auf etwa fünf bis sechs Prozent pro Jahr gesunken, so dass eine weitere Verdopplung des BIPs in zwölf bis 15 Jahren zu erwarten ist. Die Welt ist dadurch eine andere geworden, als sie es vor 30 Jahren war. Klar ist etwa, dass die USA nicht so massiv gegen China vorgehen würden, wenn das Land noch auf dem Entwicklungsstand von 1990 und somit kein ernstzunehmender Konkurrent wäre.
Begleitet wird das Wirtschaftswachstum von einem Anstieg der vom Menschen verursachten klimaschädlichen Emissionen. Die Klimakrise ist somit auch eine Folge exponentiellen Wachstums. Die Emissionen nehmen seit 1950 mit einer Wachstumsrate von knapp drei Prozent zu, der jährliche Ausstoß verdoppelt sich also rechnerisch alle 25 Jahre. In den vergangenen zehn Jahren hat sich allerdings dieser Anstieg verlangsamt, derzeit liegt er bei etwa einem Prozent pro Jahr. Solange Energie hauptsächlich mit Kohle, Öl sowie Gas erzeugt wird und mehr Wirtschaftsleistung mit mehr Energie einhergeht, ist der Zusammenhang zwischen Wirtschaftswachstum und Emissionswachstum zwingend.
In der Corona-Krise wie auch in der Klimakrise gibt es drei Wege, mit den negativen Konsequenzen des exponentiellen Wachstums umzugehen. Erstens eine Unterbrechung der Ausbreitung des Virus durch eine Reduktion der sozialen Kontakte bzw. eine Klimapolitik, die die Wirtschaft herunterfährt. Zweitens eine Immunisierung durch Impfung bzw. Entkoppelung der Emissionen von der Wirtschaftsleistung. Drittens die Bekämpfung der Folgen durch medizinische Behandlung bzw. durch Anpassung an den Klimawandel.
Der zweite Weg führt zu den geringsten Wohlfahrtsverlusten, wenn er denn technisch machbar ist: wenn also ein Impfstoff vorliegt, und wenn Technologien vorhanden sind, die grünes Wachstum erlauben. Der Impfstoff wurde in beeindruckend kurzer Zeit entwickelt. Und eine Entkoppelung des Emissionsausstoßes von der Wirtschaftsleistung ist auch möglich: Strom aus erneuerbaren Energien ist in den vergangenen Jahrzehnten immer günstiger geworden und deckt mittlerweile knapp die Hälfte des Strombedarfs in Deutschland ab. In den letzten 30 Jahren ist die jährliche Wirtschaftsleistung in Europa um gut 60 Prozent gewachsen, der Ausstoß an klimaschädlichem CO2 hat sich gleichzeitig um über 20 Prozent verringert. Um diese Entwicklung zu beschleunigen und weltweit umzusetzen, bedarf es nicht nur eines „Impfstoffes“, sondern einer Vielzahl von Innovationen. Strom aus erneuerbaren Energien muss noch günstiger werden, Versorgungssicherheit muss durch die Entwicklung von bezahlbaren Energiespeichern weiterhin gewährleistet werden, und Industrie und Landwirtschaft müssen ihre Produktionsprozesse umstellen, um den CO2-Ausstoß in den Griff zu bekommen.
Prozesse mit exponentiellem Wachstum haben unsere Welt verändert und verändern sie tagtäglich. Ein gutes Verständnis dafür ist nicht nur etwas für Mathematik-Schulbücher, sondern auch für die Lehrbücher der Politik-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften.