Risse in der Stromarchitektur
StandpunktStandpunkt des ZEW-Präsidenten Achim Wambach und Axel Ockenfels, Professor an der Universität zu Köln
Die Politik hat den Strommarkt in einen Flickenteppich aus falschen Anreizen, Subventionen und dirigistischen Vorgaben verwandelt. Warum das die Versorgungssicherheit gefährdet, erklären die Ökonomen Achim Wambach und Axel Ockenfels.
Mit dem Ausstieg aus der Kernenergie, dem verabredeten Ausstieg aus der Kohle und dem Ausbau der erneuerbaren Energien wird die Gewährleistung der Versorgungssicherheit im Stromsektor zu einem immer drängenderen Problem. Die Bundesregierung hat dazu eine Plattform „Klimaneutrales Stromsystem“ eingesetzt. Die Industrie fordert Neubau-Vorschüsse. Doch die bisher vorgelegten Konzepte überzeugen nicht.
25 Jahre nach dem Startschuss für die Liberalisierung des deutschen Strommarktes hat der Staat wieder weitgehend die Kontrolle übernommen: Es gibt kaum noch Markteintritte oder Austritte, die nicht politisch oder regulatorisch gesteuert werden. Im täglichen Stromhandel verhindern politische Widerstände, dass Strompreise regionale Knappheiten widerspiegeln, obwohl dies die Stromkosten insgesamt senken und die Versorgungssicherheit erhöhen würde.
Der Staat schöpft zu hoch erscheinende Gewinne ab und fängt drohende Verluste durch Subventionen auf. Ein Industriestrompreis soll künftig den Preis für die energieintensive Industrie niedrig halten, und so genannte Differenzverträge dürften zukünftig dazu führen, dass Solar- und Windenergie vom normalen Marktgeschehen abgekoppelt und subventioniert wird.
All diese wohlgemeinten Eingriffe in den Strommarkt führen jedoch an anderer Stelle zu Rissen in der Strommarktarchitektur, die neue Reparaturen erfordern. So ist der Strommarkt zu einem großen Flickenteppich geworden, der irgendwo zwischen liberalisiertem Wettbewerb und staatlichen Eingriffen gefangen ist.
Sicherheit der Stromversorgung ist zunehmend gefährdet
Das führt dazu, dass die Sicherheit der Stromversorgung zunehmend gefährdet ist. Dutzende Gaskraftwerke werden benötigt, wenn Wind und Sonne keinen Strom liefern. Doch kein Unternehmen scheint bereit zu investieren. Wenn aber die Versorgungssicherheit verloren geht, wird Deutschland auch seine klima- und wirtschaftspolitischen Ziele verfehlen. Deshalb soll nun ein gewaltiger weiterer Flicken in den Strommarkt eingefügt werden: Die Politik plant, Gaskraftwerke mit einer Kapazität von rund 25 GW als „strategische Reserve“ in den Markt zu bringen. Ob dies ausreicht, ist umstritten. Aber nicht nur das Volumen, auch das Konzept muss auf Tauglichkeit geprüft werden. Und dabei schneidet die strategische Reserve nicht gut ab.
Die strategische Reserve ist ineffizient und teuer. Im Gegensatz zu einer strategischen Ölreserve, die zurückgehalten werden muss, damit sie im Krisenfall verfügbar ist, kann ein Gaskraftwerk, das im Krisenfall zur Verfügung stehen soll, auch in normalen Zeiten produzieren. Die strategische Reserve darf jedoch nur dann produzieren, wenn der Markt andernfalls zu kollabieren droht. In normalen Zeiten werden die Kapazitäten zurückgehalten, das Gaskraftwerk steht ungenutzt da, obwohl es zur Finanzierung der Reserve beitragen und den Strompreis senken könnte. Nicht ohne Grund wird ein Zurückhalten von Kapazitäten in normalen Strommärkten als Marktmachtausübung sanktioniert. Bei der strategischen Reserve aber wird es vom Staat belohnt.
Auch die einfache Rechnung – mehr strategische Reserve führt automatisch zu mehr Versorgungssicherheit – stimmt nicht. Die Versorgungssicherheit ergibt sich aus der gesicherten Leistung, die dem gesamten Markt zur Verfügung steht. Wenn aber die strategische Reserve Investitionstätigkeiten in dem normalen Markt verdrängt, könnten die erwünschten Effekte auf die Versorgungssicherheit teilweise verpuffen.
Hohe Strommarktpreise sind in Knappheitssituationen nicht ungewöhnlich
Außerdem endet die Rolle des Staates nicht mit dem Bau neuer Kraftwerke. Mit jedem Einsatz der strategischen Reserve muss der Staat auch den Strompreis in Knappheitssituationen festsetzen. In Knappheitssituationen sind extrem hohe Strommarktpreise nicht ungewöhnlich. Hohe Preise sind allerdings politisch unattraktiv.
Wenn aber die Politik den Preis niedrig hält, hat dies negative Folgen auf die Investitions-, Produktions- und Flexibilisierungsanreize im Strommarkt. Auch zeigt die Erfahrung, dass die Steuerung einer strategischen Reserve regulatorische Herausforderungen mit sich bringt. Die Existenz vieler Gaskraftwerke allein garantiert noch keinen hinreichenden Anreiz, dafür Sorge zu tragen, dass in Zeiten extremer Knappheit tatsächlich Strom produziert wird. Während des katastrophalen Blackouts in Texas 2021 in Folge einer außergewöhnlich kalten Wetterlage konnte ein Großteil der Gaskraftwerke keinen Strom produzieren, da die Leitungen nicht winterfest gemacht worden waren – und einfroren.
Nicht alle Vorschläge zur Versorgungssicherheit sehen freilich neue Kraftwerke als Bestandteil der strategischen Reserve. Der vom Netzbetreiber TransnetBW entwickelte Vorschlag eines „Neubau-Vorschuss“ etwa koppelt eine Subvention an den Beitrag des zu errichtenden Kraftwerks zur Netzstabilität. Netzstabilität und Versorgungssicherheit sind jedoch grundsätzlich unterschiedliche Herausforderungen, die unterschiedliche Lösungen erfordern. In einen Fall müssen die kurzfristigen Betriebsanreize stimmen, im anderen die langfristigen Investitionsanreize. Vermischt man beides, wie beim „Neubau-Vorschuss“, können die Anreize der Erzeuger, zur Netzstabilität beizutragen, darunter leiden: Wer garantierte Zahlungen erhält, ist weniger motiviert, im Ernstfall seinen Beitrag zu leisten.
Zudem bezieht sich auch der „Neubau-Vorschuss“ wie die strategische Reserve nur auf die Angebotsseite des Strommarktes. Auch große Stromverbraucher können zur Versorgungssicherheit beitragen, wenn sie in Zeiten von Stromknappheit die Produktion runterfahren können. Der „Neubau-Vorschuss“ wäre ein weiterer Flicken im Strommarkt.
Kapazitätsmarkt hat viele Vorteile
Im Laufe der Jahre wurden dem Strommarkt aus Gründen der Versorgungssicherheit viele kleinteilige Mechanismen hinzugefügt. Doch die Sorgen wurden nicht kleiner – im Gegenteil. Daher sollte ein umfassender und kohärenter Mechanismus zur Förderung von Flexibilität im Markt in Betracht gezogen werden, der möglichst viele Technologie- und Flexibilitätsoptionen auf der Angebots- und Nachfrageseite umfasst. Kapazitätsmärkte, wie sie in vielen anderen Ländern eingesetzt werden, um Strommärkte robuster aufzustellen, könnten ein solcher Mechanismus sein.
Ein umfassender Kapazitätsmarkt ist zwar kein Selbstläufer und birgt seine eigenen Fallstricke. Richtig ausgestaltet hat er aber viele Vorteile: Ein Kapazitätsmarkt würde auch Investitionen in Speicher und Flexibilität bei den Stromnachfragern berücksichtigen; er hält keine Kraftwerke aus dem normalen Markt zurück; er garantiert die gesamte gesicherte Kapazität, und er vergütet zusätzliche Kapazitäten nur dann, wenn die Investitionsanreize über den normalen Strommarkt nicht ausreichen.
Der erste Bericht der Plattform „Klimaneutrales Stromsystem“ soll im Spätsommer vorliegen. Und die spannende Frage ist, ob wir dann weiter am Flickenteppich basteln – oder ob es gelingt, mit einem kohärenten Gesamtkonzept dem zunehmend fragilen Strommarkt auf ein robustes Fundament zu stellen.
Dieser Standpunkt erschien zuerst als Gastbeitrag in der Wirtschaftswoche.