Volle Freizügigkeit für die im Jahr 2004 beigetretenen EU-Länder - "Die Zuwanderung nach Deutschland wird sich auch nach dem 1. Mai in Grenzen halten"

Nachgefragt

Am 1. Mai 2011 erhalten die Menschen aus Mittel- und Osteuropa das uneingeschränkte Recht, in einem anderen EU-Land zu arbeiten. Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Wolfgang Franz erläutert die Auswirkungen der vollen Freizügigkeit auf den deutschen Arbeitsmarkt wie sie im Jahresgutachten des Sachverständigenrates thematisiert wurden. Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Wolfgang Franz ist seit 1997 Präsident des ZEW in Mannheim und Inhaber eines Lehrstuhls für Volkswirtschaftslehre an der Universität Mannheim. Überdies leitet er die Forschungsgruppe "Wachstums- und Konjunkturanalysen" des ZEW. Seine Hauptarbeitsgebiete sind die Makroökonomie, die Arbeitsmarkt- und die empirische Wirtschaftsforschung. Seit 2003 ist Franz erneut Mitglied des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Seit März 2009 ist er Vorsitzender dieses Gremiums.

Wie hoch wird die Anzahl der zu erwartenden Immigranten aus den im Jahr 2004 zur EU beigetretenen Ländern sein?

Vermutlich wird sich die Zuwanderung aus den mittel- und osteuropäischen EU-Beitrittsländern nach der Herstellung der vollen Freizügigkeit in Grenzen halten. Allein schon deshalb, weil die Hürden für die Zuwanderung auch bisher nicht unüberwindlich waren. Verschiedene Studien gehen davon aus, dass zwischen 50. 000 und 150. 000 Personen jährlich nach Deutschland zuwandern werden. Diese Untersuchungen berücksichtigen jedoch nicht die jüngste Finanz- und Wirtschaftskrise. Sie könnte die Arbeitsmarktsituation in den bisher beliebtesten Zielländern, dem Vereinigten Königreich und Irland, derart verschlechtert haben, dass ein längerer Aufenthalt dort unattraktiv wird. Ob dann aber tatsächlich eine Wanderung anstatt zurück in die Heimatländer nach Deutschland stattfindet, ist aufgrund möglicher Sprachbarrieren fraglich. Umgekehrt könnte die gute Arbeitsmarktsituation in Deutschland mehr Einwanderer aus Ost- und Mitteleuropa anziehen.

Welche Folgen wird die volle Freizügigkeit für Löhne und Beschäftigung in Deutschland haben?

Die Erfahrungen, die Deutschland bislang mit zugewanderten Arbeitskräften gemacht hat, zeigen, dass nur sehr geringe negative Effekte auf das Lohnniveau zu erwarten sind. Gleichwohl ist nicht auszuschließen, dass einige regionale Arbeitsmärkte oder auch bestimmte Branchen überdurchschnittlich von Zuwanderung aus den genannten Ländern betroffen sein könnten, sodass sich die Politik unter Handlungsdruck gestellt sieht. Der Druck wird dadurch verstärkt, dass eine unmittelbare Verdrängung heimischer Arbeitnehmer durch Migranten sichtbarer ist, als wenn Arbeitsplätze durch preisgünstigere Importe aus dem Ausland dorthin verlagert werden.

Wie sollte die Politik auf die Arbeitnehmer aus den neuen EU-Ländern reagieren?

Von gesetzgeberischen Maßnahmen ist abzuraten, erst recht von gesetzlichen Mindestlöhnen. Sie kosten je nach Höhe und Bindungswirkung eine Vielzahl von Arbeitsplätzen vor allem im Bereich gering qualifizierter Arbeit und damit bei der Problemgruppe auf dem Arbeitsmarkt. Darüber hinaus würde sich die Frage stellen, mit welchen Argumenten die Politik Begehrlichkeiten anderer Wirtschaftszweige abwehren möchte, die ebenfalls unter starkem internationalem Wettbewerbsdruck stehen. Denn letztlich macht es ökonomisch gesehen keinen großen Unterschied, ob ein Gut beispielsweise in Polen zu geringeren Lohnkosten als in Deutschland produziert und hierher exportiert wird, oder ob das gleiche Gut in Deutschland von einem zugewanderten polnischen Arbeiter gefertigt wird, dessen Lohn ebenfalls niedriger ist als das von anderen hiesigen Arbeitnehmern. In beiden Fällen können die Güter preisgünstig erworben werden – zum Nutzen der Konsumenten.

Am deutschen Arbeitsmarkt fehlen insbesondere gut qualifizierte Arbeitskräfte. Kann die volle Freizügigkeit dem Fachkräftemangel entgegenwirken?

Durch die Zuwanderung von Arbeitskräften aus den Ländern Mittel- und Osteuropas kann der Fachkräftemangel in Deutschland zumindest gelindert werden. Das Problem wird sich allerdings alleine durch die volle Freizügigkeit nicht beheben lassen.

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Wolfgang Franz
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