Jeder fünfte Haushalt rief trotz Bedarfs keine Sozialleistungen ab

Forschung

Finanzielle Folgen der Corona-Pandemie

Nur eine Minderheit unter jenen Haushalten, die Einkommens- oder Vermögensverluste erlebten, beantragte staatliche Unterstützung.

Ein Viertel der Privathaushalte erlitt zum Höhepunkt der zweiten Welle der Corona-Pandemie einen Einkommensrückgang. Bezieht man Vermögensverluste mit ein, waren rund 34 Prozent der deutschen Haushalte von finanziellen Verlusten betroffen. Unter letzteren nahmen weniger als ein Viertel sozialpolitische Unterstützungen in Anspruch.

Im Durchschnitt bezogen nur rund neun Prozent der Erwerbsbevölkerung im Rahmen der Corona-Krise Sozialleistungen. Dies ergab eine Erhebung im Rahmen eines Gemeinschaftsprojekts der Universität Mannheim, des ZEW Mannheim und des Leibniz-Instituts für Resilienzforschung (LIR) auf dem Höhepunkt der zweiten Pandemie-Welle zwischen Dezember 2020 und Januar 2021. Die Befragung ist repräsentativ für die zumindest gelegentlich erwerbstätige Wohnbevölkerung, Arbeitslose, Auszubildende und Personen in Mutterschafts- oder Erziehungsurlaub bzw. in Elternzeit, die das 30. Lebensjahr vollendet haben.

Allgemeine Dokumente

ZEW-Kurzexpertise „Finanzielle Verluste und sozialpolitische Unterstützung von Haushalten in der Corona-Krise“

Finanzielle Einschnitte erlebten nicht nur Selbstständige

Von Einkommenseinbußen waren in der zweiten Corona-Welle Selbstständige besonders stark betroffen. Rund 44 Prozent dieser Personengruppe berichten über ein reduziertes Einkommen, unter Angestellten waren es 22 Prozent. Mini-Jobber/innen mussten mit rund 34 Prozent ebenfalls überdurchschnittlich häufig Einkommenseinschnitte hinnehmen, ebenso Alleinerziehende mit rund 30 Prozent und jüngere Menschen zwischen 30 und 39 Jahren mit rund 26 Prozent. „Selbstständige stehen in der Diskussion um die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie zurecht im Fokus. Weniger bekannt ist, dass auch Alleinerziehende, geringfügig Beschäftigte und jüngere Erwerbstätige überdurchschnittlich von finanziellen Einschnitten betroffen sind“, sagt Prof. Dr. Tabea Bucher-Koenen vom ZEW Mannheim, die die Studie gemeinsam mit den Projektleiterinnen der beteiligten Institutionen verantwortet.

Niedrigschwellige Maßnahmen wie Kurzarbeitergeld und Bonus-Kindergeld sind besonders verbreitet

Kurzarbeitergeld steht deutlich an Platz 1 der Unterstützungsmaßnahmen, die Haushalte im Fall einer Inanspruchnahme erhielten.

Von den Unterstützungsmaßnahmen des Bundes und der Länder riefen die Erwerbstätigen vor allem das Kurzarbeitergeld und das Bonus-Kindergeld ab. Kurzarbeitergeld nahm knapp die Hälfe jener Haushalte in Anspruch, die Unterstützungsmaßnahmen bezogen, an zweiter Stelle steht mit knapp einem Drittel das Bonus-Kindergeld von 300 Euro. Dieses hatte der Bund im Jahr 2020 automatisch an Bezugsberechtigte ausgezahlt. „Niedrigschwellige Angebote, die wie Kurzarbeiter- oder Bonus-Kindergeld ohne eigenes Zutun flossen, waren wenig überraschend sehr verbreitet. Es ist aber wichtig, mehr darüber zu erfahren, was der Staat tun kann, um auch mit den anderen Hilfsmaßnahmen die Betroffenen effektiv zu erreichen, vor allem mit Blick auf vulnerable Haushalte“, sagt Prof. Dr. Carmela Aprea, Wissenschaftlerin an der Universität Mannheim und Co-Leiterin der Studie.

Des Weiteren in Anspruch genommen wurden u.a. Kinderzuschlag, Sozialhilfe, der verlängerte Anspruch auf Arbeitslosengeld 1 sowie Entschädigungen wegen fehlender Kinderbetreuung. Unter Selbstständigen ist Soforthilfe überdies weit verbreitet. Diese wurde von 32 Prozent der Leistungsbeziehenden in dieser Teilgruppe der Erwerbstätigen beansprucht.

Menschen aus dem Gastgewerbe und der Kunst-, Unterhaltung- und Erholungsbranche beantragen am häufigsten Hilfeleistungen

Unter den Haushalten, die Sozialleistungen in Anspruch nahmen, finden sich überdurchschnittlich viele Menschen aus dem Gastgewerbe und der Kunst-, Unterhaltung- und Erholungsbranche. Hier gab jeder dritte bzw. jeder fünfte Haushalt an, Transfers beantragt zu haben.

„Anhand demographischer Merkmale konnten wir weitere Kategorien von Haushalten identifizieren, die Leistungen häufiger abriefen als der von Einbußen betroffene Durchschnitt“, erklärt ZEW-Wissenschaftler Marius Cziriak, der die Daten für die Studie analysierte. So nahmen Personen aus Ostdeutschland doppelt so häufig sozialpolitische Maßnahmen in Anspruch wie Menschen aus Westdeutschland. Gleiches gilt für Alleinerziehende im Vergleich zu Kinderlosen, die in einer Partnerschaft leben. Selbstständige beantragten fünfmal häufiger Unterstützungsleistungen als Angestellte. Auch unter jüngeren Menschen war das Abrufen von Leistungen verbreiterter als bei höheren Alterskohorten.

Sozialleistungen erreichen nicht alle vulnerablen Gruppen

Unter Haushalten, die keine Leistungen in Anspruch nahmen, gibt rund jeder fünfte Haushalt an, Bedarf an Unterstützung gehabt zu haben. Alleinerziehende, geringfügig Beschäftigte und nicht oder nur gelegentlich erwerbstätige Personen gaben häufiger an, dass sie keine sozialpolitische Unterstützung im Rahmen der Corona-Maßnahmen in Anspruch genommen haben, obwohl sie Bedarf gehabt hätten.

Nicht alle Haushalte, die trotz finanzieller Einschnitte auf Sozialleistungen verzichteten, taten dies, weil sie ohne diese auskamen. Neben 80 Prozent der Befragten, die keine finanzielle Hilfe benötigten, gaben 19 Prozent an, Unterstützungsbedarf zu haben. 17 Prozent dieser Haushalte gaben bei einer Mehrfachauswahl als Grund hierfür an, nicht anspruchsberechtigt zu sein. Knapp vier Prozent wussten nicht, wie man an Unterstützung gelangt. Drei Prozent vermuteten, dass die bürokratischen Hürden hoch seien. Ebenfalls drei Prozent war es unangenehm, Hilfe zu beantragen. „Es gibt immer noch eine beachtlich große Gruppe von betroffenen und gleichzeitig bezugsberechtigten Haushalten, die nicht über die Informationen und das Wissen verfügen, aus eigener Kraft Hilfen zu beantragen“, sagt Wirtschaftspädagogin Aprea weiter.

Alleinerziehende beantragen dreimal seltener Hilfsleistungen als kinderlose Paare

Die Zugehörigkeit zu einer demografischen Gruppe erhöht nicht nur die Wahrscheinlichkeit, Einkommens- oder Vermögenseinbußen zu erleben. Sie beeinflusst auch die Häufigkeit, mit der die jeweiligen Haushalte Hilfen beantragen. So nahmen geringfügig Beschäftigte knapp fünfmal seltener Unterstützung in Anspruch als Vollzeitbeschäftigte, obwohl Bedarf dafür bestanden hätte. Bei Personen, die keiner oder nur einer gelegentlichen Erwerbstätigkeit nachgehen, war die Wahrscheinlichkeit dreimal geringer als bei Vollzeitbeschäftigten. Im Vergleich zu Menschen in einer Partnerschaft ohne Kinder verzichteten Alleinerziehende trotz erklärter Not deutlich häufiger auf Sozialleistungen.

„Der Staat hat bestehende Sozialleistungen angepasst und zusätzliche Unterstützung eingeführt. Trotzdem existieren weiterhin Gruppen vulnerabler Haushalte, die der Sozialstaat mit Maßnahmen gegen die wirtschaftliche Seite der Corona-Krise nicht erreicht“, sagt ZEW-Wissenschaftlerin Bucher-Koenen. „Gerade Alleinerziehende sind nicht nur häufiger von finanziellen Verlusten betroffen. Sie beantragen außerdem etwa dreimal seltener Hilfe als kinderlose Paare. Unsere Studie legt nahe, dass der Sozialstaat seine Unterstützung für diese Gruppe noch niedrigschwelliger anbieten sollte.“

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