Brexit - Eine Zäsur für Europa
StandpunktAm 23. Juni 2016 haben sich die Briten für einen Ausstieg aus der Europäischen Union entschieden. Bei einer Wahlbeteiligung von mehr als 70 Prozent sprach sich eine Mehrheit von 51,9 Prozent der Wähler/innen für den Brexit aus. Artikel 50 des EU-Vertrags regelt den Ausstieg und sieht eine zweijährige Verhandlungsfrist vor, die sogar verlängert werden kann. Aber sowohl das Vereinigte Königreich wie auch die europäischen Staaten haben ein hohes Interesse, die Verhandlungen zügig zu führen. Die Unsicherheit darüber, wie es weitergehen wird, schadet allen.
Die Tücken der Verhandlung liegen im Detail: Werden Bankgeschäfte von England aus in Kontinentaleuropa weiterhin möglich sein? Können sich britische Universitäten weiterhin an europäischen Forschungsprojekten beteiligen? Und wie stark wird die Personenfreizügigkeit eingeschränkt werden? Nicht ohne Grund sprachen sich die ökonomischen Kommentatoren fast einhellig für einen Verbleib des Vereinigten Königreichs in der EU aus. Wenn es nicht so absurd wäre, würde man den Briten raten, die jetzigen Verträge als Verhandlungsbasis zu nehmen.
Unzufriedenheit entspringt dem Gefühl der Fremdbestimmung durch Brüssel
Mit dem Vereinigten Königreich löst sich aufgrund der Unzufriedenheit mit den Entscheidungen der EU ein wesentlicher Bestandteil aus der Union. Es wäre deshalb für die EU unangemessen, zu einem "business as usual" zurückzukehren. Diese Unzufriedenheit ist in vielen europäischen Ländern zu beobachten und entspringt sicherlich auch dem Gefühl der Fremdbestimmung durch Brüssel. Auch wenn meistens der Ministerrat in Brüssel mitentscheidet, schieben die nationalen Regierungen allzu gerne Brüssel als übermächtiger Instanz den schwarzen Peter zu, um dadurch den Konflikt mit nationalen Interessengruppen zu vermeiden.
Die aktuellen Diskussionen um CETA und TTIP sind dafür exemplarisch. Verhandlungen sind Sache der EU, Verabschiedung eigentlich auch. Dieses Verfahren macht es den nationalen Politikern zu einfach, Kritik an den Verträgen für Stimmungsmache und Bedienung des eigenen Wählerklientels zu nutzen. Diese Dynamik lässt sich nur umgehen, wenn die Debatten in die nationalen Parlamente rückverlagert werden. Bei CETA ist nun genau dies erfolgt: Auf den Druck der Ereignisse hin hat die Kommission das Vertragswerk als gemischtes Abkommen deklariert, so dass auch die nationalen Parlamente Stellung beziehen und entscheiden müssen.
"Ein Europa der variablen Geometrie wäre die Folge"
Das gängige und überzeugende Argument gegen eine Verlagerung von Entscheidungen zurück in die nationalen Parlamente ist die Möglichkeit der Blockade von Verfahren durch einzelne Staaten, die ganz Europa handlungsunfähig machen könnte. Dies ließe sich umgehen, wenn man entweder von der Einstimmigkeitsregel abweichen würde, was den Unmut gegenüber Brüssel in überstimmten Ländern noch verstärken dürfte, oder man alternativ Abkommen zulassen würde, die nicht von allen europäischen Ländern ratifiziert werden. Ein Europa der mehreren Geschwindigkeiten also, oder – etwas weniger wertend – ein Europa der variablen Geometrie, wäre die Folge.
Diese Perspektive hat ihre Reize: Während jetzt eine nationale Ablehnung von CETA das gesamte Vertragswerk in Frage stellt und als Protest gegen Europa genutzt werden kann, würden es sich die jeweiligen Abgeordneten bei einer tatsächlich nationalen Entscheidung genau überlegen, ob sie zu den wenigen Ländern gehören wollen, die sich dem Vertrag entziehen. Der Wettbewerbsnachteil gegenüber den Ländern der EU, die dem Abkommen beitreten, wäre signifikant.
Die Entscheidung der Briten, die EU zu verlassen, ist eine Zäsur. Nicht nur Großbritannien wird sich verändern, auch die EU wird sich ändern müssen. Um Europa muss wieder in den nationalen Parlamenten gerungen werden. Die Sitzung im britischen Parlament am Montag nach dem Referendum, in der die britischen Abgeordneten die Konsequenzen des Brexits diskutierten, war ein Schritt dahin. Selten wurde im Houses of Parliament so viel über die Vorteile der europäischen Zusammenarbeit gesprochen.