"Die Angst vor einem sozialen Abstieg ­hat Einfluss auf das Wählerverhalten"

Nachgefragt

Die Politik in Deutschland läuft sich zusehends warm für die Bundestagswahl im Herbst 2017. Der Wahlkampf spitzt sich dabei auf das Schlagwort "soziale Gerechtigkeit" zu: Aufstieg durch Bildung, faire Bezahlung und eine gerechte Steuerverteilung werden propagiert, die Spitzengehälter von Führungskräften stehen auf dem Prüfstand. Im Namen der sozialen Gerechtigkeit soll zudem die sogenannte Agenda 2010, mit der Sozialstaat und Arbeitsmarkt seinerzeit grundlegend umgebaut wurden, korrigiert werden. ZEW-Finanzwissenschaftler Andreas Peichl äußert sich kritisch zur wahrgenommenen Ungleichheit in der Bundesrepublik sowie deren Auswirkungen auf Politik und Wählerverhalten.

Die Menschen in Deutschland fühlen eine soziale Ungleichheit, wünschen sich aber trotzdem nicht mehr Umverteilung. Wie passt das zusammen?

Diese Wahrnehmung ist eng verbunden mit einer relativen Ungleichheit. So ist beispielsweise die Armutsrisikoquote längere Zeit gestiegen. Als relatives Maß spiegelt sie zu einem gewissen Grad auch den gefühlten Abstand zwischen Gesellschaftsgruppen wider. Warum trotz steigender wahrgenommener Ungleichheit nicht mehr Umverteilung gewünscht ist, darüber lässt sich nur spekulieren. Die Menschen haben eine gewisse Hoffnung oder Erwartung des sozialen Aufstiegs, die von zu starken Forderungen im Bereich der Umverteilung absieht, um später nicht selbst davon betroffen zu sein. Außerdem wird in Deutschland bereits sehr viel umverteilt. Steuern und Transfers können unter Umständen zu Effizienzverlusten führen.

Inwiefern spielt das Ungleichheitsempfinden tatsächlich eine Rolle für die politischen Entscheidungen der Wähler?

Politische Entscheidungen scheinen in der letzten Zeit stärker von der Flüchtlingskrise als von Verteilungsfragen getrieben zu werden. Ungleichheit spielt dennoch eine Rolle, insbesondere wenn deren Ursachen als unfair wahrgenommen werden. Als Beispiel kann die steigende wahrgenommene Ungleichheit aufgrund unterschiedlicher regionaler Entwicklungen angeführt werden. Im Gegensatz zu früheren Generationen haben viele Menschen die Befürchtung, dass ihre Kinder keinen höheren Lebensstandard erreichen werden. Diese Angst vor einem sozialen Abstieg hat Einfluss auf das Wählerverhalten.

Lässt sich die Unzufriedenheit mit der etablierten Politik auf ökonomische Faktoren zurückführen?

Ja und nein. Zwar sind harte ökonomische Faktoren wie Ungleichheitsmaße in den vergangenen Jahren gestiegen, allerdings nicht in einem dramatischen Ausmaß und weniger als etwa in den USA. Zudem sieht man teilweise stark heterogene Entwicklungen in einzelnen Regionen, die die wahrgenommene Ungerechtigkeit verstärken. Bei der Suche nach Erklärungen für Unzufriedenheit kommt man schnell in den Bereich der Wahrnehmung. Die Wahrnehmung der wirtschaftlichen Gesamtentwicklung ist eng mit der etablierten Politik verbunden, die seit vielen Jahren eine große Koalition bildet. Das Fehlen einer schlagkräftigen Opposition im Zusammenspiel mit der wahrgenommen Ungerechtigkeit lässt somit die Unzufriedenheit stark ansteigen. Außerdem wird die Agenda 2010 gerne zum Sündenbock für die vermeintliche Ungleichheitsentwicklung gemacht. Man muss jedoch anmerken, dass sie die Arbeitslosigkeit drastisch reduziert und Deutschland zu einem der wirtschaftlich robustesten Staaten Europas gemacht hat. Auch wenn eine Diskussion über mögliche kleinere Korrekturen angebracht ist, wäre es unvernünftig, die Reform zu revidieren. Die positiven Effekte der Reform dürfen bei der Diskussion um soziale Gerechtigkeit nicht außer Acht gelassen werden.

Beim Thema Managergehälter wird die Debatte häufig emotional. Muss das Einkommen von topverdienenden Führungskräften wieder stärker an das Leistungsprinzip gekoppelt werden?

Sicherlich hat es zuletzt Auswüchse gegeben, die mit dem Gerechtigkeitsempfinden der Mehrheit nicht in Einklang zu bringen sind. Die Debatte nur auf Manager und Führungskräfte in Unternehmen zu beschränken, greift allerdings zu kurz. Warum echauffiert sich niemand über die Einkommensverteilung zwischen Helene Fischer und ihren Tontechnikern? Oder ist es leistungsgerecht, dass ein Ersatzspieler bei einem Bundesligaverein das Vielfache des Zeugwarts verdient? Es ist richtig, eine grundsätzliche Debatte über die angemessene Entlohnung von Spitzenverdienern zu führen. Nur sollte diese auf breiter Basis stattfinden, ohne eine bestimmte Berufsgruppe zum Sündenbock zu machen. Ein Maximalgehalt ist nicht sinnvoll. Die Frage, ob Gehälter in beliebiger Höhe steuerlich absetzbar sein müssen, ist jedoch berechtigt.

Wie könnte die Politik für mehr Gleichheit sorgen?

Hierfür gibt es zwei Stellschrauben: Erstens wird eine weitreichende Reform des deutschen Steuersystems benötigt,  die vor allem die Erbschaftssteuer betrifft. Diese sollte ausnahmslos, dafür aber mit einem niedrigen Steuersatz, erhoben werden. Sicherlich besteht auch noch Spielraum in der Anhebung des Spitzensteuersatzes für sehr hohe Einkommen, wohingegen gerade niedrige und mittlere Einkommen entlastet werden sollten. Dies könnte auch über eine Reduzierung der Mehrwertsteuer erfolgen. Zweitens sollte die Politik zur Herstellung von Chancengerechtigkeit vermehrt in frühkindliche Bildung investieren. Es kann nicht sein, dass die Lebenschancen und Möglichkeiten zur Entfaltung qua Geburtsrecht verteilt werden. Kindergärten, Kitas oder auch Mentorenprogramme können hier ausgleichend wirken.

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Prof. Dr. Andreas Peichl
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