Die Politik sollte Arbeitsanreize im Transferbereich schaffen

Nachgefragt

Verursacht das deutsche Steuer- und Transfersystem mehr soziale Ungleichheit? Die gesetzlichen Regelungen zu Steuern, Abgaben und Transfers werden immer wieder als zu komplex und intransparent gescholten. Tatsächlich kann das Zusammenwirken von Sozialabgaben, Einkommensteuer und Transferleistungen wie Wohn- und Kindergeld dazu führen, dass sich Einkommenszuwächse für einige Menschen nicht auszahlen. Dies gilt insbesondere für die Grenzbelastung, die abbildet, welcher Anteil eines zusätzlich verdienten Euros wieder an den Staat abgegeben werden muss. ZEW-Familienökonom Dr. Holger Stichnoth äußert sich kritisch zu diesen Fehlanreizen im deutschen Steuer- und Transfersystem.

„Mehr brutto“ bedeutet nicht zwangsläufig auch „mehr netto“. Welche Einkommensklassen sind besonders von einer hohen Grenzbelastung betroffen?

Das deutsche Steuersystem ist zwar progressiv, belastet also höhere Einkommen tendenziell stärker als geringe. Für eine umfassende Evaluation müssen jedoch auch Sozialleistungen und Sozialversicherungsbeiträge berücksichtigt werden. Bei der Sozialversicherung werden auf Einkommen jenseits der Bemessungsgrenze keine Beiträge mehr gezahlt. Und Transfers wie Arbeitslosengeld (ALG) II, Kinderzuschlag oder Wohngeld werden einkommensabhängig gezahlt, sodass ihr Wegfall bei steigendem Einkommen für die Betroffenen eine Belastung darstellt. Dementsprechend sind vor allem die unteren Bereiche der Einkommensverteilung von hohen Grenzbelastungen betroffen.

Was heißt das konkret?

Menschen, die Hartz IV beziehen, werden die Leistungen um 80 Cent für jeden hinzuverdienten Euro oberhalb der jährlichen Freigrenze von 12.000 Euro gekürzt. Für diese Menschen oder auch für Leute, die Wohngeld oder Kinderzuschlag beziehen, ergeben sich bei Kürzung oder Wegfall der Leistungen typischerweise Grenzbelastungen zwischen 80 Prozent und 100 Prozent. In Extremfällen kommt es auch zu Grenzbelastungen von weit mehr als 100 Prozent: Aus „mehr Brutto“ folgt dann sogar „weniger Netto“. Davon sind besonders stark Alleinerziehende und Paare mit Kindern betroffen. Erstere müssen beispielsweise mehr als 23.800 Euro verdienen, um eine Grenzbelastung von rund 40 Prozent zu erreichen, letztere erreichen diese relativ niedrige Grenzbelastung, abhängig davon, ob nur ein Partner verdient oder beide verdienen, bei 36.300 Euro beziehungsweise 40.800 Euro.

Also lohnt sich zusätzliche Arbeit bei Geringverdienenden nicht mehr?

In den unteren Einkommensbereichen kommt durch den Transferentzug nur ein geringer Teil eines potenziellen Mehrverdienstes bei den Arbeitenden an. Eine zusätzliche Stunde Arbeit zum Mindestlohn von 8,84 Euro zahlt sich bei einer Grenzbelastung von 80 Prozent für den Haushalt letztlich nur mit 1,77 Euro als zusätzlich verfügbarem Einkommen aus. Zumindest aus finanzieller Sicht lohnt sich da das Arbeiten kaum. Aus Sicht des Einzelnen ist die Versuchung dann groß, eher über Schwarzarbeit „aufzustocken“, weil sich dann jeder Euro im eigenen Portemonnaie wiederfindet. Da sich Gutverdienende am anderen Ende des Einkommensspektrums einer im Vergleich geringeren Grenzbelastung gegenübersehen, haben diese stärkere Anreize, mehr zu arbeiten. Die unterschiedlichen Grenzbelastungen führen so auch zu höherer Ungleichheit und damit zu Verzerrungen.

Wie kann die Politik diese Verzerrungen aus der Welt schaffen?

Die Einzelleistungen wie ALG II, Kinderzuschlag und Wohngeld lassen sich zum Beispiel besser aufeinander abstimmen. Die Sprungstellen und hohen Ausschläge bei der Grenzbelastung könnten durch eine einheitliche Transferentzugsrate ersetzt werden. Dadurch würde das Leistungssystem transparenter. Auch positive Beschäftigungseffekte wären zu erwarten. Allerdings sind auch ohne einen solchen Systemwechsel Verbesserungen bei den einzelnen Leistungen möglich. Die neue Bundesregierung plant derzeit, die bisherige Abbruchkante beim Kinderzuschlag abzuschaffen. Das ist zu begrüßen.

Was kann Deutschland bei derartigen Reformvorhaben von anderen Ländern lernen?

Eine Zusammenlegung von Transferleistungen zu einer einzelnen Leistung wird in den USA oder in den skandinavischen Ländern bereits praktiziert. In Großbritannien obliegt die Zuständigkeit für Sozialleistungen zumindest einer einzelnen Behörde. Ein Blick auf die Erfahrungen in diesen Ländern kann Deutschland bei der Abwägung und konkreten Ausgestaltung verschiedener Reformoptionen helfen.

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