Mein letzter Standpunkt als Präsident des ZEW, bevor ich am 28. Februar 2013 ausscheide, beschäftigt sich mit Europa. Nicht nur um dem "E" im ZEW Tribut zu zollen, sondern in erster Linie, weil ich mir um Europa Sorgen mache. So wie derzeit sollte es nicht weitergehen. Vielmehr gilt es einerseits, dem herrschenden Verdruss über das institutionelle Gefüge beispielsweise der Europäischen Union (EU) entgegen zu treten, andererseits sich jedoch nicht überzogenen Erwartungen oder gar Visionen hinzugeben.

Der angesprochene Missmut steht nur scheinbar im Wiederspruch zur Verleihung des Friedensnobelpreises an die EU. Die Dankesreden der führenden Repräsentanten der EU, Barroso und van Rompuy, würdigten nämlich hauptsächlich die Leistungen der Gründerväter der EU und die Architekten der europäischen Einigung der vergangenen Jahrzehnte, also wenn man so will, in etwa die erste und zweite Generation. Stimmt mithin der Vergleich mit den drei Generationen der Buddenbrooks und stehen wir an der Schwelle der dritten Generation, welche das großartige Aufbauwerk in sich zusammenfallen lässt?

Diese Gefahr ist jedenfalls nicht zu übersehen. Wer heutzutage an die EU-Kommission denkt, dem kommen oft als allererstes Bürokratie und Geschacher in den Sinn. Dies beginnt mit einer kleinteiligen Regelungswut und endet mit ausgiebigen Spekulationen in den Medien, aber zuweilen von den Politikern selbst, wer denn nach wichtigen Sitzungen auf EU-Ebene als Sieger und wer als Verlierer zu gelten hat. Natürlich ist es legitim, die Interessen des eigenen Landes einzubringen, indes doch nicht koste was es wolle, frei nach dem Motto "I want my money back" (David Cameron, Entschuldigung, ich meinte Margret Thatcher). Politiker, die sich so gerieren, dürfen sich über Europa-Müdigkeit eigentlich nicht beschweren.

Zu der EU-Verdrossenheit trägt des Weiteren das gegenseitige Misstrauen bei, von anderen Regierungen über den Tisch gezogen zu werden, wofür die Diskussionen über die Währungsunion beredt Zeugnis ablegen. Gewiss: Diesbezügliche Verträge sind mehrfach gebrochen und der Stabilitäts- und Wachstumspakt ist im Jahr 2003 entscheidend geschwächt worden, wohlgemerkt auf Betreiben Deutschlands und Frankreichs. Aber: Aus diesen schlechten Erfahrungen hat die Politik Lehren gezogen und eine Reihe sanktionsbewehrter Regeln vereinbart. Bei aller berechtigten Skepsis über deren Funktionstüchtigkeit - wer davon ausgeht, dass wir es nur mit Halunkenstaaten zu tun haben, die prinzipiell Verträge brechen, der darf sich weder auf eine EU, noch eine Währungsunion, noch auf eine NATO einlassen.

Das andere Extrem zu EU-Verdruss sind Visionen fernab der Realität, wie etwa Träumereien über die Vereinigten Staaten von Europa. Nichts gegen "I have a dream" (Martin Luther King). Aber ich bin mir nicht sicher, wie die Parlamente in Berlin, Paris und Rom reagierten, wenn ihnen ein Europäischer Finanzminister strikte Weisungen erteilt. Das funktioniert in Deutschland noch nicht einmal auf der nationalen Ebene. Mehr noch, ich bin mir noch nicht mal sicher, ob die Vereinigten Staaten von Europa tatsächlich so erstrebenswert sind. Große Wirtschaftsräume waren ebenso mit wirtschaftlichen Wachstumszyklen konfrontiert wie kleine. Und hat Europa trotz oder wegen seiner Kleinteiligkeit in den vergangenen Jahrzehnten eine so markante wirtschaftliche Blüte erlebt?

Vor diesem Hintergrund empfiehlt es sich, das Erreichbare ins Blickfeld zu nehmen und die Visionen der Zukunft zu überlassen. Ganz allgemein sollte der Grundsatz gelten, Haftung und Kontrolle auf derselben Ebene anzusiedeln. Bei der Fiskalpolitik bleibt zwar die nationale Haushaltautonomie erhalten, jedoch unter strikter Einhaltung des auf europäischer Ebene vereinbarten Regelwerkes etwa bezüglich der Grenzen der Staatsverschuldung. Bei der Stabilisierung des privaten Bankensystems verhält es sich anders. Hier brauchen wir eine Europäische Bankenaufsicht und eine Europäische Agentur für Restrukturierung und Abwicklung von Banken. Es geht mithin nicht darum, alle Sachverhalte entweder nur auf der europäischen oder nur auf der nationalen Ebene zu regeln, sondern dies hängt von den zu gestaltenden Sachverhalten ab. Alles in allem machen wir hinsichtlich eines solchen langfristigen Ordnungsrahmens trotz aller Detailkritik Fortschritte. Dies stimmt mich unbeschadet aller Sorgen zum Abschied dann letztlich doch hoffnungsfroh.

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Wolfgang Franz
Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Wolfgang Franz
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