Fachkräftemangel in Deutschland - "Qualifizierte Zuwanderung mit Augenmaß"

Nachgefragt

Im Oktober ist die Arbeitslosenzahl in Deutschland erstmals seit langem wieder unter die Drei-Millionen-Marke gefallen. Angesichts des robusten Arbeitsmarkts wächst der Ruf der Unternehmen nach mehr Zuwanderung, weil nicht mehr genügend qualifizierte inländische Bewerber vorhanden seien. Dr. Holger Bonin, Leiter des Forschungsbereichs Arbeitsmärkte, Personalmanagement und Soziale Sicherung am ZEW, sagt, was angesichts des wachsenden Fachkräftemangels getan werden muss.

Dr. Holger Bonin promovierte nach dem Studium der Volkswirtschaftslehre im Jahr 2000 an der Universität Freiburg. Nach Tätigkeiten am Institut zur Zukunft der Arbeit (IZA) und am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) ist Bonin seit dem Jahr 2007 Leiter des Forschungsbereichs "Arbeitsmärkte, Personalmanagement und Soziale Sicherung" am ZEW. Bonin untersucht unter anderem die Beschäftigungsprobleme von Geringqualifizierten, die Flexibilität von Löhnen, die ökonomischen Folgen von gesellschaftlicher Alterung und Migration sowie die Risikobereitschaft von Arbeitnehmern.

Brauchen wir wirklich Zuwanderung?
Definitiv. Mit Zuwanderern, die die gesuchten Qualifikationen mitbringen, lassen sich die bestehenden Lücken am schnellsten füllen. Ganz einfach wird das allerdings nicht. Ausländische Fachkräfte stehen nicht gerade Schlange, um nach Deutschland zu kommen. Zudem gibt es nach wie vor kein Steuerungsinstrumentarium für eine gezielte Zuwanderung.

Aber besteht nicht die Gefahr, dass man mit den Zuwanderern künftige Arbeitslose ins Land holt, wenn die Wirtschaft nicht mehr so gut läuft?
Das ist ein Missverständnis. Man darf nicht von unseren nicht so guten Erfahrungen mit den Gastarbeitern ausgehen. In der heutigen Situation braucht Deutschland die Zuwanderung nicht aus konjunkturellen, sondern aus strukturellen Gründen. Es sollen gut ausgebildete Menschen zu uns kommen, die von ihrer Grundqualifikation her zu jeder Zeit überdurchschnittlich gute Chancen am Arbeitsmarkt haben.

Können Sie sagen, wie viele Menschen in welchen Bereichen zuwandern sollten?
Das kann niemand genau. Durch ein ständiges Monitoring kann man aber abschätzen, was gerade Mangelberufe sind. Diese Berufe sollte ein Punktesystem höher gewichten. Bezieht es daneben Faktoren wie Alter, Ausbildungsniveau, Berufserfahrung und Sprachkenntnisse ein, sind die Chancen gut, Zuwanderer zuzulassen, die sich leicht in den Arbeitsmarkt integrieren. Trotzdem sollte man die jährlichen Zuwanderungskontingente nicht zu groß ansetzen.

Warum diese Einschränkung?
Um die Selbstheilungskräfte des Marktes zu erhalten. Bleibt ein Nachfrageüberhang trotz Zuwanderung, sollten die Löhne steigen. Dies setzt Signale für die richtige Ausbildung. Und wenn die Unternehmen wissen, dass sie nicht alle Stellen durch Zuwanderer füllen können, behalten sie den Anreiz, selbst auszubilden und attraktive Arbeitsbedingungen zu schaffen.

Was können die Unternehmen in Deutschland denn selbst gegen den Fachkräftemangel tun?
Zumindest mittelfristig ist die weitere Aktivierung der Älteren und noch mehr der Frauen zentral, um den Fachkräftemangel aus eigener Kraft zu bekämpfen. Hier müssen die Unternehmen eigene Beiträge leisten, etwa durch altersgerechte Arbeitsplätze oder gute Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Bei den Frauen geht es dabei um mehr als den Betriebskindergarten. Gerade in einem technischen Umfeld ist häufig eine fundamental neue Unternehmenskultur erforderlich, damit sie an die Spitze kommen können.

Und was ist mit Qualifizierung und Ausbildung?
Kurzfristig ist damit wenig zu erreichen. Die Vorstellung etwa, man könnte viele der heutigen Langzeitarbeitslosen durch Qualifizierung so weit bringen, dass sie die Fachkräftelücken füllen, halte ich schlicht für utopisch. Aber natürlich beginnen die künftigen Fachkräfte ihren Bildungsweg in unseren Kindergärten und Schulen. Und wie wir aus genügend Bildungsstudien wissen, wird hier viel Humankapitalpotenzial verschwendet. Nicht nur berufsrelevante Grundfertigkeiten, sondern auch Berufs- und Aufstiegsorientierung müssen noch viel besser vermittelt werden.

Dr. Holger Bonin