Hat die Finanzpolitik die Entlastung durch niedrige Zinsen richtig genutzt?

Standpunkt

Was würden wir einem Ehepaar ohne Kinder empfehlen, das in folgender Lage ist? Es ist hoch verschuldet, weil es lange über seine Verhältnisse gelebt hat. Das Eigenheim ist schön angestrichen, aber marode, es drohen hohe Reparaturkosten. Das Ehepaar hat keine Ersparnisse für das Alter aufgebaut. Nun gewinnen die beiden überraschend im Lotto, leider nur mit fünf Richtigen, dafür gibt es 50.000 Euro. Das ist nicht genug, um die finanziellen Sorgen zu beseitigen, aber trotzdem viel Geld. Wir würden empfehlen, den Gewinn auf keinen Fall für Konsum auszugeben, sondern Schulden abzubauen.

Der deutsche Staat ist in einer ähnlichen Lage wie dieses Ehepaar – die Schulden sind hoch, und wegen der Eurokrise drohen Lasten in unbekannter Höhe. Die Bevölkerung schrumpft. Unter den Finanzministern der letzten Dekade hat zwar meines Wissens keiner im Lotto gewonnen, aber sie hatten trotzdem Glück: Die Entwicklungen an den Kapitalmärkten haben ihnen massive Entlastungen durch sinkende Zinsen beschert. Das  Bundesfinanzministerium hat berechnet, dass der Bund allein in den Jahren 2010 bis 2014 um rund 41 Milliarden Euro entlastet wird. Das ist aber nur der Höhepunkt eines längeren Trends. Im Jahr 2000 betrug der Anteil der Zinsausgaben am Bundeshaushalt noch knapp 16 Prozent. Seitdem ist dieser Anteil gesunken, im Jahr 2005 lag er bei 14 Prozent, im Jahr 2010 knapp unter elf Prozent und 2012 sogar unter zehn Prozent. Im gleichen Zeitraum sind die Schulden massiv gestiegen, die des Bundes um rund 40 Prozent. Wenn die Zinsausgaben seit dem Jahr 2000 ebenfalls um 40 Prozent angestiegen wären, müssten im Bundeshaushalt dafür heute 55 Milliarden Euro aufgebracht werden. Tatsächlich betragen die Zinsausgaben nur 30 Milliarden Euro. Was sollte der Staat mit dem Geldsegen tun?

Eine Volkswirtschaft ist nicht das gleiche wie ein privater Haushalt, trotzdem wäre es richtig, Schulden abzubauen. Wie beim Lottogewinn handelt es sich um eine einmalige Entlastung. Man kann zwar theoretisch zweimal im Lotto gewinnen, aber verlassen sollte man sich darauf lieber nicht. Das gilt auch für die Zinsen – sie werden wieder steigen. Hat die Politik das Richtige getan und die Entlastungen zum Schuldenabbau verwendet? Wenn man den Anteil des Bundeshaushalts am Bruttoinlandsprodukt als Maßstab nimmt, kommt man zu einem negativen Urteil. Die Gesamtausgaben des Bundes betrugen im Jahr 2000 knapp zwölf Prozent des Bruttoinlandsprodukts, und daran hat sich bis 2012 trotz sinkender Zinsausgaben wenig geändert. Das Geld ist für Anderes verwendet worden, in erster Linie für Sozialausgaben. Der Zuschuss des Bundes zu den Sozialversicherungen ist von rund 30 Prozent des Bundeshaushalts im Jahr 2000 auf heute knapp 37 Prozent angestiegen. Diese Mehrausgaben entsprechen ungefähr den Minderausgaben für Zinsen. Zwar ist auch die Nettokreditaufnahme gesunken, aber das liegt an höheren Steuereinnahmen.

Was folgt daraus? Die deutsche Finanzpolitik der letzten Dekade hat die Chance verpasst, das Geschenk niedriger Zinsen einzusetzen, um Schulden zu senken. Der durch die Alterung der Bevöllkerung bedingte Druck zu höheren Sozialausgaben wird anhalten. Die Zinsausgaben werden sich von einem entlastenden zu einem belastenden Faktor entwickeln. Darauf sind die öffentlichen Finanzen nicht vorbereitet. Die Politik verlangt von den Bürgern, für die Zukunft vorzusorgen. Sie sollte mit gutem Beispiel vorangehen.