Seit Mitte des vergangenen Jahrzehnts hat sich die Lage auf dem deutschen Arbeitsmarkt in beeindruckender Weise zum Besseren gewendet. Die Anzahl der Erwerbstätigen ist zwischen den Jahren 2005 und 2012 um 2,7 Millionen Personen gestiegen, spiegelbildlich dazu ging die Arbeitslosigkeit markant zurück und erreichte den tiefsten Stand seit der Wiedervereinigung. Mit diesen Erfolgen ging im öffentlichen Meinungsbild über das Geschehen auf dem Arbeitsmarkt ein veränderter Blickwinkel einher. Nicht mehr stehen so sehr die quantitativen Größenordnungen von Beschäftigung und Arbeitslosigkeit im Mittelpunkt, sondern nunmehr Aspekte der "Qualität" von Arbeitsverhältnissen und der Gerechtigkeit der Verteilung der Arbeitseinkommen. Insbesondere eine weitverbreitete Armut auf Grund von "Hungerlöhnen" vor allem im Niedriglohnbereich und die zunehmende Spreizung der qualifikatorischen Lohnstruktur bilden den Brennpunkt einer vehement, teilweise erbittert geführten Debatte, wie es beispielsweise in der Kampagne "Umfairteilen" zum Ausdruck kommt.

Im Hinblick auf die Diskussion über die Armut in Deutschland erscheinen die Fakten auf den ersten Blick alarmierend. So meldete das Statistische Bundesamt am 17. Oktober 2012: "15,8 Prozent der Bevölkerung waren 2012 armutsgefährdet." Nota bene: "armutsgefährdet", nicht "arm". Abgesehen davon suggeriert diese Zahl ein überzogenes Ausmaß der tatsächlichen Bedürftigkeit, obwohl sich das Statistische Bundesamt völlig korrekt eines international gebräuchlichen Meßkonzepts einer relativen Armut bedient. Demnach gilt - vereinfacht ausgedrückt - jemand als armutsgefährdet, wenn er oder sie weniger als 60 Prozent des in dieser Volkswirtschaft erzieltem mittleren Einkommen erzielt.

Wie problematisch dieses Maß indessen ist, lässt sich an zwei Beispielen sofort verdeutlichen. Wenn sich alle Einkommen verdoppeln, bleibt die Armutsquote trotzdem konstant. Oder noch frappierender: Wenn sämtliche hiesigen Spitzenverdiener ins Ausland abwandern, geht in Deutschland die Armutsquote zurück (eben weil das mittlere Einkommen sinkt und sich demzufolge eine größere Anzahl von Personen nunmehr oberhalb der Armutsschwelle befindet). Eine Alternative zu einem solch fragwürdigen Meßkonzept wäre eine Armutsschwelle ausgedrückt in Geldeinheiten, analog der Vorgehensweise etwa in den Vereinigten Staaten. Aber die sich dann ergebenden, weitaus niedrigeren Armutsquoten passen natürlich nicht so recht zur Umverteilungsideologie.

Völlig abwegig ist des Weiteren die Vorstellung, welche die Bezieher von Arbeitslosengeld II mit Arbeitnehmern gleichsetzt, deren Arbeitseinkommen, weil "Hungerlöhne", nicht dazu reichten, "von seiner Hände Arbeit leben" zu können. Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit waren im Juni 2011 von den rund 4,6 Millionen Beziehern von Arbeitslosengeld II nur 1,35 Millionen überhaupt erwerbstätig und davon bezog die Hälfte ein monatliches Bruttoeinkommen von bis zu 400 Euro, arbeiteten also vornehmlich als Hausfrau, Studierende, Schüler oder Rentner in einem Minijob. Verbleiben 570 Tausend Erwerbstätige, wovon nur 329 Tausend vollzeitig arbeiteten. Allerdings kann das Arbeitsentgelt bei letzterem Personalkreis schon auf Grund der Familiengröße nicht zum Lebensunterhalt reichen. Die Anzahl der vollzeitbeschäftigten alleinstehenden Empfänger von Arbeitslosengeld II belief sich auf rund 80 Tausend abhängig Beschäftigte und knapp 57 Tausend Selbstständige. Also nur mal so: 137 Tausend im Vergleich zu 4,6 Millionen.

Was schließlich die Entwicklung der qualifikatorischen Lohnstruktur anbelangt, so hat sich der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in seinem neuen Jahresgutachten damit ebenfalls beschäftigt. Die Lohnstruktur fächert sich in Deutschland in der Tat seit geraumer Zeit auf. Seit ungefähr Mitte der 1990er Jahre ist zudem eine zunehmende Spreizung im Bereich unterer Lohngruppen zu beobachten. Anstatt diese Entwicklung zu verteufeln, sollten die Kritiker bedenken, dass dadurch gering qualifizierte Arbeitslose einen Arbeitsplatz erhalten haben, obschon mit niedrigeren Arbeitsentgelten, die gegebenenfalls mithilfe des Arbeitslosengeld II aufgestockt werden. Ist das nicht besser als Arbeitslosigkeit?

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Wolfgang Franz
Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Wolfgang Franz
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