Wie wegweisend ist ein drohender Brexit für die EU? - "Autonomie von Brüssel ist eine Illusion"

Nachgefragt

2016 ist für die Europäische Union ein Jahr der Weichenstellungen: Am 23. Juni entscheidet Großbritannien über seinen Verbleib in der Union. Eine Entscheidung gegen die EU – der so kolportierte Brexit – wäre zugleich ein historischer Meilenstein, weil der erste Mitgliedstaat überhaupt die EU verlassen würde. Mit welchen Folgen müsste Großbritannien rechnen, wenn sich das Land entschließt, die 43-jährige Mitgliedschaft aufzugeben? ZEW-Finanzwissenschaftler Prof. Dr. Friedrich Heinemann erklärt die Konsequenzen – sowohl für das Vereinigte Königreich als auch für die EU.

Großbritannien riskiert durch einen Austritt aus der EU auch den Austritt aus dem Binnenmarkt. Auf was für eine zukünftige EU-UK-Beziehung müssen wir uns gefasst machen?

Für das Vereinigte Königreich ist ein ungehinderter Zugang zum EU-Binnenmarkt ökonomisch von großer Bedeutung. Es geht dabei nicht nur um die zukünftigen Exportchancen oder die Rolle Londons als europäischer Finanzplatz. Das Land würde auch als Standort für asiatische oder amerikanische Direktinvestitionen massiv an Attraktivität einbüßen, wenn es nicht mehr Teil des Binnenmarkts wäre. Jede künftige britische Regierung würde nach einer Brexit-Entscheidung somit gezwungen sein, mit Brüssel neue bilaterale Verträge zu schließen, die den Zugang zum Binnenmarkt offen halten.

Inwiefern können die Brexit-Befürworter dann ihr Ziel erreichen, das Land von der Brüsseler Gesetzgebung unabhängig zu machen?

Das ist die große Illusion der Brexit-Befürworter. Das Ziel, Autonomie von Brüssel zu erlangen, wird im Kernbereich der Binnenmarkt-Gesetzgebung nur sehr begrenzt erreichbar sein. Großbritannien wird auch als Nicht-EU-Land faktisch weiterhin die Regeln über die Grundfreiheiten, zur Beihilfekontrolle oder zum Wettbewerbsrecht akzeptieren müssen und kann von der EU nicht mit großem Entgegenkommen bei Sonderregeln rechnen. Das Land hat in solchen Austritts-Verhandlungen eine schwache Position, weil für Großbritannien mit neuen Handelsbarrieren zum Kontinent weit mehr auf dem Spiel steht als umgekehrt für die kontinentalen Volkswirtschaften. Und klar ist auch, dass die EU einen Austritt in keiner Weise belohnen möchte, schon um Nachahmer abzuschrecken.

Wäre ein Brexit für die EU und Deutschland also ohne große Risiken?

Ökonomisch wäre nach einem kurzfristigen "Nein" mit einer größeren Phase der Unsicherheit zu rechnen. Langfristig dürften sich die Folgen für die europäische Wirtschaft in Grenzen halten. Bei der Finanzierung des EU-Haushalts kämen auf  Nettozahler, wie Deutschland, etwas größere Lasten zu, weil mit den Briten ein wichtiger Nettozahler ausfallen würde. Wichtiger aber sind die politischen Konsequenzen. Das Vereinigte Königreich hat in Verhandlungen zur EU-Gesetzgebung einen eher marktorientierten Ansatz. Nach einem Austritt dürften sich die Machtgleichgewichte in Rat und Parlament stärker in Richtung der marktkritischen Länder verschieben. Es wird dann an gesunder Skepsis gegenüber neuen Regulierungs- und Zentralisierungsideen fehlen. Großbritannien hat mit manchen seiner Kritikpunkte am Zustand der EU Recht. Man denke an die Forderung, aus der anachronistischen Dauersubventionierung der Landwirte auszusteigen. Ohne die Stimme der Briten werden solche Reform-ideen noch weniger Chancen haben als bisher.

Was würde ein Brexit für das Vereinigte Königreich als Wissenschaftsstandort bedeuten?

Britische Universitäten sind in Europa bestens vernetzt und erfolgreich, wenn es etwa darum geht, Projektfinanzierungen aus den EU-Forschungstöpfen einzuwerben. Umgekehrt bereichert das Land aber auch gesamteuropäische Netzwerke durch die Qualität seiner Forschungsbeiträge. Europa würde als Forschungsstandort geschwächt werden, wenn es nicht gelänge, die Briten weiter in die EU-Programme einzubinden.

Bedeutend wäre auch das politische Zeichen, das Großbritannien in die Welt schicken würde. Wäre ein Austritt eines Mitgliedstaates eine Vorstufe zum Scheitern der EU?

Das glaube ich nicht. Europa ohne die EU ist ein Szenario, das für mich schlichtweg nicht vorstellbar ist. Die Bedeutung Europas für die Friedenssicherung, die Sicherung unseres ökonomischen Wohlstands und die Lösung komplexer globaler Probleme ist evident. Diese Bedeutung wird bei berechtigter oder auch unberechtigter Brüssel-Kritik nach wie vor von Mehrheiten in wichtigen EU-Ländern gewürdigt. Richtig ist, dass Politik, Medien und auch Wissenschaft sich noch mehr Mühe geben sollten, Europas Leistungen zu kommunizieren und zu einer konstruktiven Reformdebatte über europäische Politik beizutragen.