Wie wichtig ist die Familie für den Bildungs- und Arbeitsmarkterfolg? Schwächere Kinder sollten stärker durch den Staat gefördert werden
NachgefragtNie waren die Ansprüche an Lehrer, Schulen und Universitäten so hoch wie heute: der Nachwuchs soll in kürzester Zeit fit gemacht werden für die Herausforderungen des globalen Arbeitsmarkts. Übersehen wird dabei oft, dass entscheidende Weichen für den Werdegang eines Kindes zum größeren Teil in der Familie gestellt werden, erklärt der Bildungsökonom Friedhelm Pfeiffer. PD Dr. Friedhelm Pfeiffer, Diplom-Volkswirt, Jahrgang 1958 studierte an den Universitäten Freiburg i.Br., Bern und Mannheim. Nach seiner Promotion 1993 wechselte Pfeiffer zum ZEW. Hier fungiert er als stellvertretender Leiter des Forschungsbereichs "Arbeitsmärkte, Personalmanagement und Soziale Sicherung". Im Jahr 2002 habilitierte er sich an der Universität Mannheim. Pfeiffers Forschungsinteresse gilt den Wirkungen optimierter Bildungsinvestitionen für individuelle und gesamtwirtschaftliche Erträge sowie den Ursachen und Konsequenzen des Erwerbs von kognitiven und nichtkognitiven Fähigkeiten im Lebenszyklus. Er koordiniert das mit Mitteln des Paktes für Forschung und Innovation geförderte Netzwerk "Nichtkognitive Fähigkeiten: Erwerb und ökonomische Konsequenzen", eine Forschungskooperation mit den Universitäten Chicago und Konstanz sowie dem Zentrum für Bildungsökonomik in London und dem Sozio-oekonomischen Panel in Berlin.
Aus Ihren Studien geht hervor, dass bereits der Zeitraum bis zur Einschulung eines Kindes über dessen späteren schulischen, beruflichen und sozialen Erfolg im Leben entscheidet. Wie ist das möglich?
Das Lernen setzt schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt, nämlich im Mutterleib, ein. Bereits nach der Geburt verfügen Säuglinge über ein erstaunliches Maß an kognitiven und motorischen Fähigkeiten. Diese, ebenso wie Emotionen und selbstregulatorische Kompetenzen – darunter versteht man bei Säuglingen zum Beispiel die Fähigkeit, sich ohne fremde Hilfe zu beruhigen - können sich jedoch ohne eine angemessene Betreuung durch Mütter, Väter oder andere Betreuungspersonen nicht entfalten. Gerade die frühen Interaktionsprozesse zwischen Säugling und Bezugspersonen dienen als Blaupause für die weitere Entwicklung des Kindes, denn die Entwicklungsprozesse bauen aufeinander auf. Erfolge auf einer Entwicklungsstufe begünstigen weitere Erfolge in den nachfolgenden Entwicklungsstufen und Misserfolge fördern weitere Misserfolge. Das ist nicht notwendigerweise schön linear, man denke an die Pubertät, gilt aber im Schnitt. Ein solides, in der Kindheit gelegtes Fundament ist ein Schatz, der ein ganzes Leben beflügelt. Eine von wenig Bindung und Anerkennung geprägte Kindheit ist dagegen eine Wunde, die ein ganzes Leben beschweren kann.
Können Bildungseinrichtungen regulierend auf Kinder einwirken, deren Müttern und Vätern es nicht gelungen ist, die kognitiven und nichtkognitiven Fähigkeiten der Kleinen im Vorschulalter anzuregen oder schreibt sich die ungleiche Leistungsfähigkeit der Kinder über den Lebensweg fort?
Das Fenster für die weitere Ausdifferenzierung menschlicher Fähigkeiten wird im Leben nie geschlossen. Dennoch bleiben die Eltern in der Schulphase als kompetente Partner ihrer Kinder das A und O für deren Schulerfolg. Auch die Bildungseinrichtungen können durch hohe, den Fähigkeiten entsprechende Interaktionsqualität daran mitwirken, die selbstregulatorischen Fähigkeiten der Kinder zu entwickeln, ihnen helfen, Motivation und Selbstbewusstsein zu verbessern, Erfolge zu erzielen. Das sind wichtige Grundlagen für den Schulerfolg und für eine zufriedenstellende Integration in die Gemeinschaft. Leider sieht die Praxis in den Bildungseinrichtungen häufig anders aus. Vielfach werden die Kinder weiter gefördert, die bereits eine gute Grundlage mitbringen und die schwierigen Kinder, die, die mehr Aufmerksamkeit bräuchten, bleiben auf der Strecke.
Welche ökonomischen Konsequenzen können auf Kinder zukommen, die zuwenig elterliche Förderung und Zuwendung erfahren haben?
Wenn sie etwas Glück haben, treffen sie Lehrerinnen und Lehrer, Ärzte oder andere Menschen in der Gesellschaft, die ihnen Wege weisen helfen. Wir haben beispielsweise herausgefunden, dass Arbeitsmärkte in Deutschland relativ offen sind. Leistung zählt heutzutage ebensoviel wie Beziehungen und Herkunft. Wer von der Herkunft her benachteiligt ist, kann dies auf dem Arbeitsmarkt durch Leistung wettmachen, wenigstens zum Teil. Das ist die gute Nachricht. Für Kinder mit sehr starken Benachteiligungen aus der Kindheit, die etwa durch zerrüttete Elternhäuser, durch die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt zustande kommt, ist die Lage jedoch schwieriger. Angstzustände, Depressionen, Desintegration und Schulversagen sind die sichtbar gewordenen Konsequenzen einer schlimmen Kindheit.
Welche Wege sollte die Politik gehen, um diesen negativen Folgen für das Individuum aber auch den Folgekosten für die Gesellschaft, etwa in Form von hoher Arbeitslosigkeit, niedriger Produktivität und zunehmender Ungleichheit, entgegenzuwirken?
Notwendig ist, dass sich die staatliche Bildungspolitik auf ihre eigentliche Aufgabe konzentriert, nämlich Kindern zu helfen, ihr Potential zu entwickeln und Chancengleichheit herzustellen. Dabei können aus ökonomischer Sicht zwei Prinzipen als Leitlinien dienen. Erstens: staatliche Mittel sollten so eingesetzt werden, dass sie über den gesamten Lebenszyklus den höchsten Ertrag für den einzelnen und die Gemeinschaft erwarten lassen. Wenn sich die Politik von diesem Prinzip leiten ließe, würden mehr staatliche Mittel für die Förderung in der Kindheit ausgegeben. Zweitens sollten die Mittel so eingesetzt werden, dass die Summe aus privaten und staatlichen Bildungsinvestitionen bis etwa zum Alter von 10 Jahren für jedes Kind annährend gleich wird. Nach unseren Forschungen erhalten derzeit die Jugendlichen, die geringe Leistungen in PISA erbringen nur 26 Prozent der Investitionen, die die Jugendlichen erhalten, die im Mittelfeld der Leistungsskala rangieren. Die staatliche Bildungspolitik agiert nach dem Prinzip, die Mittel so einzusetzen, dass jedes Kind etwa gleich viel stattliche Unterstützung erhält. Die Ungleichheit in den privaten Investitionen ist aber, wie die Zahlen zeigen, viel größer. Daher hat die Herkunft bei uns noch immer den entscheidenden Einfluss auf den Schul- und den Lebenserfolg.
Unsere Forschungsergebnisse zeigen, dass sich die skizzierte, humanistischen Idealen verpflichtende, Bildungspolitik langfristig auch ökonomisch auszahlt. Das Problem liegt jedoch in der Umsetzung. Die Umsteuerung in der Bildungspolitik zahlt sich ökonomisch erst in einem Zeitraum von 20 bis 50 Jahren aus. Die Umsetzung bleibt daher eine Herkulesaufgabe.