Gesetzliche Mindestlöhne entwickeln sich allmählich zu wahren Wundermitteln gegen vielerlei Unbill. Aber wie für alle Medikamente gilt hier der Rat, sich nach Risiken und Nebenwirkungen zu erkundigen.

Als erstes sollen Mindestlöhne das Dilemma bei der Festlegung der Leistungen des Arbeitslosengelds II heilen. Nach dem vor einigen Monaten ergangenen Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Arbeitslosengeld II hatte ein Überbietungswettlauf bezüglich der Höhe der Regelsätze eingesetzt. Dabei hatte das Gericht zwar unter anderem einige Berechnungsverfahren als zu "freihändig" konzipiert verworfen, dem Gesetzgeber indessen bescheinigt, dass diese Grundsicherung "nicht als evident unzureichend" anzusehen sei. Gleichwohl wurden unter Berufung auf dieses Urteil Regelsätze von mindestens 400 Euro gefordert mitunter sogar 500 Euro. Wie auch immer, damit wäre der Konflikt mit dem Lohnabstandsgebot noch gravierender geworden, welches darauf abzielt, dass sich eine Arbeit auf dem ersten Arbeitsmarkt signifikant mehr lohnen muss als die Unterstützungszahlungen. Mindestlöhne lösen diesen Konflikt scheinbar wundersam auf. Die Arbeitnehmer im Bereich der unteren Lohnskala bekommen höhere Entgelte, Hartz IV–Empfänger erhalten steigende Regelleistungen und trotzdem wird dem Lohnabstandsgebot Genüge getan. Miraculix würde ob dieses Zaubertranks vor Neid erblassen.

Ein zweiter Schmerz kann angeblich ebenfalls mit Mindestlöhnen gelindert werden, nämlich die Abwehr eines unliebsamen Wettbewerbs auf hiesigen Arbeitsmärkten, wenn ab Mai nächsten Jahres die volle Freizügigkeit für Arbeitskräfte aus den mittel- und osteuropäischen EU-Beitrittsländern des Jahres 2004 hergestellt sein wird. Schon werden Kolossalgemälde über den dann zu erwartenden Zustrom von Arbeitskräften und einem damit einhergehenden "Lohndumping" angefertigt. Abgesehen davon, dass sich die entsprechenden Wanderungen von Arbeitskräften aus diesen Ländern nach Deutschland vermutlich in engen Grenzen halten werden, könnten die Arbeitnehmer anderer Branchen, die hierzulande ebenso unter internationalem Wettbewerbsdruck stehen, ähnliche Schutzmaßnahmen einfordern. Denn prinzipiell macht es keinen großen Unterschied, ob Waren und Dienstleistungen in Deutschland deshalb preiswerter angeboten werden, weil sie hier mit vergleichsweise gering entlohnten osteuropäischen Arbeitskräften hergestellt werden, oder ob es sich um preiswerte Importgüter aus Osteuropa handelt, welche dort zu niedrigeren Arbeitskosten produziert werden.

Einem Mindestlohn wird aber drittens noch mehr zugetraut, nämlich die "soziale Schieflage" abzumildern, weil sich die Niveaus der unteren und mittleren Arbeitseinkommen zunehmend voneinander entfernen. Mindestlöhne erhalten in diesem Zusammenhang sogar höhere Weihen. Die Menschenwürde erfordere, von seiner Hände Arbeit leben zu können. Wer wollte den Menschen dieses Allheilmittel verwehren?

Bevor ein Medikament zugelassen wird, muss die Pharmaforschung fundierte klinische Tests beibringen, um seine Tauglichkeit zu belegen. In der Ökonomie bedient man sich bei der Eignungsprüfung wirtschaftspolitischer Maßnahmen meist ökonometrischer Untersuchungen, zuweilen helfen Erfahrungen. Die Resultate sind für das Medikament Mindestlohn desaströs. Bestenfalls ist der Mindestlohn ein Placebo, weil er unterhalb des Marktlohns liegt, also nicht bindend ist. Nur in Ausnahmefällen zeigt ein Mindestlohn positive Effekte. Im Regelfall jedoch vernichtet er Hunderttausende von Arbeitsplätzen ausgerechnet im Bereich geringqualifizierter Arbeit, also bei der Problemgruppe auf dem Arbeitsmarkt. Dies belegen nicht nur zahlreiche wissenschaftliche Studien, sondern ebenso die Erfahrungen in Frankreich. Dort führte die Anhebung des Mindestlohns vor einigen Jahren zu einer Zunahme der Arbeitslosigkeit geringqualifizierter Jungendlicher.

Das Wundermittel Mindestlohn entpuppt sich somit als eine Arznei mit außerordentlich schädlichen Nebenwirkungen. Seine Zulassung ist mithin zu versagen.

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Wolfgang Franz
Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Wolfgang Franz
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